Die ungeputzten Zähne

Schlaf, wo ich nicht geschlafen habe. So viele Hände am
Griff, am Becken, und was darunter war. So schwacher
Atem bald, kein Schlaf. Was hätte sein dürfen, was
sollen, was  zwischen meinen Zähnen bleibt, wonach

es schmeckt. Schlaf der Entbrannten, der Erwachten.
Was Regenvorhang, fremder Staub und Spucke, was
halber Schnee bis in das Hemd. So viele Hände auf dem

Küchentisch, am Fenster, kein Schlaf. Was fremdes Fett
am Heizkörper, am Herd, so klares Dunkel und was hätte
schlafen sollen. So laufe ich im Schneeregen, im Januar
mit wieder ungeputzten Zähnen, wo ich nicht geschlafen habe.

© Marcel Beyer
From: Erdkunde. Gedichte
Köln: DuMont Literatur und Kunst Verlag, 2002
Audio production: 2000 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

[Wieder wagt sich meine Liebe vor]

Wieder wagt sich meine Liebe vor
Hat sie nicht genug gebüßt
Verbrannte sie sich nicht am Schmerz
Ertrug Wunden voller Mut?
Hat sie nicht genug gebüßt
Auf diesen schattenlosen Wegen
Und im düsteren Gestrüpp?
Wagt sich wieder vor
Wie eine Stute die auf einem
Schlachtfeld blutet
Hat sie nicht genug gebüßt
In stimmlosen Abgründen
In Schluchten voller Gewalt?
Warum vergießt sie immer wieder
Tinte in der Blüten Augen?
Wagt sich wieder vor
Doch wie viele Nächte noch?
Wie viele Stillen?

Übersetzung aus dem Französischen von Aurélie Maurin und Odile Kennel