György Buda 

Translator

Da waren Straßenecken, umschlossene Plätze, wo selbst Tage nach der zerschlagenen Demonstration der ätzende Geruch von Tränengas zu spüren war. Wurden die ausgebrannten Autowracks auch entfernt, ließen die herausgerissenen Pflastersteine das Fehlen des Straßenbelags nicht vergessen, dass die Mitte der Stadt eine unsichere Zone geworden war. Die Nacht gehörte den Sirenen, den skandierenden Massen, den Brandstiftern, die Plätze wurden zu Fallen, die Straßen zu Grenzen zwischen absperrbaren Fluchtwegen im Kopf eines Kommandanten, der nach so vielen Friedensjahren endlich Krieg machen durfte.
*
Wohin man sich auch wandte, überall nur Gitter und Absperrungen. Das stoische Grau der Häuser kam von ferner her als das Mondlicht. Die Stadt sprach noch immer in der toten Sprache der Fassadenfiguren von der neuen Wut: Poseidon ist hier der Hauptgott, inmitten des Festlandes, wo in engen Untermietszimmern um gestohlene Liebe gefeilscht wird. Die nackten steinernen Körper wenden sich einander zu wie eingeschaltet vergessene Bildschirme: das dichte Mohngeriesel nach Sendeschluss überzieht sie, während unten die Wut Kinderlegionen, fern aller Meere, versammelt hat.
*
Zwei Hände schreiben die Geschichte deines Körpers, die nicht von einander wissen, zwei Stimmen rufen in dir nach ihren Unbekannten. Sammle die Unterschiede. Lege den blühenden Strauß der Alltagslügen, der Erklärungsversuche und Ausflüchte schon jetzt auf dein Grab, pflege es, reinige es von den verschiedenen Glauben, die es dem Herbstlaub gleich bedecken. Doch siehe den Alltag nicht mit Alltagsaugen. Die einfachsten Fragen sind stets die, welche du nicht stellst, und schreit man sie dir in die Ohren, hörst du sie nicht, bis du aus der Zeit gerannt bist.

*
Zu Friedenszeiten verdeckt das Zentrum seinen Selbsthass mit Schmuckstein, Blumenkisten und geordnetem Straßenverkehr, es führt die ausgemusterten Straßenbahnen, die aus der immer fürchterlicheren Peripherie massiven Menschengeruch bringen, in abflusslose städtische Buchten. Das Leben war hier nie etwas anderes als die Kunst allzu langsamen Mordens. Entlang der Absperrungen durfte nun endlich der wache Verstand mit öffentlichem Hängen und anderen ähnlichen Träumen der schizophrenen Liebe spielen und trunken denken, Politik zu machen.

*
Von Zeit zu Zeit muss es Krieg geben. Schlussendlich waren die Verhältnisse im Innersten niemals friedlich. Ein einziger Mensch ist zu eng für so viele Sehnsüchte und so viel Wollen. Dem, der keine Augen und Ohren hat, der sich immer mit einem Anderen erheitert, und dem, der mit den Eulenaugen, der mit einem Stein um den Hals herumgeht und sich der Einfachheit halber „Ich“ nennt. Keiner von ihnen bewohnt diese Welt. Jeder verrät sich. Sie sind im Ausnahmezustand, doch vermag sich jeder von ihnen an seiner Niederlage genau so zu ergötzen. Vergeblich erlässt jener, der hier spricht, Gesetze gegen sie.

*
Was aber ist mein Problem? Das fragte jemand, der am selben Tag wie ich geboren wurde und mich seit mindestens zwanzig Jahren kennt. Torschlusspanik? Hoffnungslosigkeit? Langeweile? Er blickte mich an, als bedeuteten Erklärungen etwas. Ich erzählte ihm im Gegenzug von einem Graureiher. Den sah ich in einer Stadt am Meer, er stand jeden Morgen auf dem Dach eines roten Peugeot am Parkplatz und wartete, bis ihm vom ersten Stock des Hauses Fische zugeworfen wurden. Er stellte seine unwahrscheinliche Präsenz jeden Morgen her in der Sonne. Nimm diesen Reiher als Gleichnis, sagte ich. Wofür du es auch immer brauchst.

*
Gehst du eines Tages weg von hier, wirf keinen Groschen über deine Schulter! Lass Eis in dir wachsen, als säßest du an der Rückseite des Mondes, und übe die Kunst des langsamen Mordens. Warst du doch nie jemand anderer als der Astronaut deiner Gefühle. Dein Raumschiff ist ein leeres Blatt Papier. Bedauere nicht jene da unten, die nach dem Kampf ihre Wunden herzeigen und von Sonntagen mit Essensgeruch träumen, weil sie die Schwerkraft nicht besiegen können. Nimm nichts an von hier, und glaube nicht den Flüssen, dem Ozean! Von hier kannst du nur nach oben entkommen. Es lohnt sich nicht, sich an die Erde zu erinnern.

Ein abstürzender Jagdflieger in Flammen. Rußschwarze Rauchfahne, ohrenbetäubendes Heulen. Katapultieren! Wer noch ein Ziel hat, muss jetzt katapultieren. Familie? Europa? Der Panikknopf wird gedrückt, das Gehirn zerlegt die Bilder in ihre Elemente. Was siehst du? Kannst du es sagen? Keine Zeit jetzt. Spezielle Neuronen analysieren Form und Farbe, die Kontraste. Du gehst in einer halben Sekunde ab, wie eine Rakete.

Jetzt entscheidet es sich, ob der Unfall tödlich ist oder ob du noch eine Chance hast. Endlich ist das Bewusstsein ganz wach. Zehn Millionen Informationen erreichen den Autopiloten in der Sekunde, er teilt dir davon jetzt vierzig mit. Freilich lebst du auch so in der Vergangenheit. Du siehst die vergehenden Gesichter um dich herum nicht mit den Augen, vielmehr mit deinen Erinnerungen, du schneidest die Hand, die auf dich zukommt,

und alles Lächeln, die nicht gefragten Fragen, wie ein Chirurg von dir ab. Zerstören ist das Einzige, wovon du wirklich etwas verstehst und du leugnest es vor dir ohne Schmerzen: Der Kannibalismus ist nicht nur das gehütete Erbe Papuas. Seitdem du lebst, würgst du am Dreck eines gehässigen Bettlerstaates. Keine Ausrede möglich. Was aber immer geschehen mag, stets passiert zugleich etwas anderes, Illusionen bilden überhaupt keine Ausnahmen.

Gehst du nur alle Schalttage auf die Straße hinaus, chattest du lieber, oder schreibst du Briefe, bereitest mit seltenen Gewürzen für Kinder, Frau und Freunde ein raffiniertes Abendessen, all das kann eine Zeitlang vergessen werden. Schließlich weiß das Gehirn, was wichtig ist, was nicht; was es aber kennt, das behält es für sich. Es kühlt und beruhigt sich. Für ihn gibt es keine Entscheidung, ob auf den Straßen Menschen geschlachtet werden oder ob ein barbarischer

Liebestanz aufgeführt wird. Während du hörst, dass ein Lehrer an der ungewissen Grenze besoffene Hooligans zu seiner ehemaligen Schule führt, um dort sechsjährige Romakinder anzugreifen, teilt ein schlaksiger Halbwüchsiger seinem Freund per Telefon mit: „Schau dass du herkommst, auf deinen Fuß wird geschissen.“ Im Gehirn bleiben von jeder Erfahrung Spuren zurück, jederzeit aus dem Archiv abrufbar, sind sie mit Gefühlen gepaart. Da würdest du dich freilich freuen,

wäre dir diese Sprache fremd. Doch im nächsten Moment wird auch das zur Munition, zum Argument gegen das Land und gegen dich selbst, denn jeder über vierzig ist schon ein perfekter Schlafwandler, die persönlichen und kollektiven Phantasien hängen ihm unentwirrbar an. Der Autopilot schlägt immer zu spät Alarm. Der Absturz kommt unaufhaltsam. Welche Hoffnung begehrst du? Noch ein Glück, dass das Gehirn von Geburt an atheistisch ist, denn verreisen kann man nur im Kopf.

Kann man gegen eine Stadt fahren? Dorthin so zurückkehren, dass es im Voraus entschieden wurde, diesmal kann ich nicht erlauben, dass die Stadt meine Fremdheit aufbricht und mich mit diesem viel zu unmittelbaren Blick beschämt, der alles über mich zu wissen scheint und so meine Instinkte und all mein Begehren verwirrt. Kann man der Wiederholung, kann man einer Stadt trotzen, die einen weiblichen Blick besitzt?

Denn es gibt Blicke, die, wenn auch nur von der Neugier geleitet und nicht mit einer Berührung zu verwechseln sind, den Körper fiebern machen und die Achillesferse der Seele finden. Es gibt Blicke, die keine Zeit für sich haben wollen, aber mit ihrem Angedenken einen verstören und zerbrechen. Blicke dieser Art sind geschlechtslos. Sie haben ein und haben kein Geschlecht. Scharfe, jeden Widerstand auflösende, zu freie weibliche Blicke.

Und wenn die Blicke platzen, wie verblasene irisierenden Blasen von hinter dem ockergelben Drahtglas, warum schwebt dort etwas an Stelle des Gesichtes oder der Stimme? Etwas, das zum Glück nicht mit der Kamera gezeigt werden kann, Etwas, das man nur noch vergessen kann, was keine Stimme, kein Gesicht mehr ist. Verboten, daran zu denken, verboten, auch nur danach zu fragen, wessen Gesicht das war. Es war niemandes Gesicht.

Eine Passagiermaschine startet mit blinkenden Positionslichtern, lautlos, erleuchtet. Der Flug ist wie eine Narkose, die Wolken wie die Wüste, die Wüste wie das Meer, das Meer wie die schneebedeckte Ebene. Dem Körper wird die Zeit genommen, das Auge ruht, die Startbahn ist überall gleich grau. Ich lehne mich zurück, der Auftrieb der Beschleunigung presst mich in den Sitz. Die Vorbereitung kommt nie zum Abschluss. Danke für den würdevollen Aufstieg.

Woher aber der Zwang zur Wiederholung? Der Rede, der strengsten Form des Schweigens? Warum reicht es nicht aus, die Mittäterschaft mit dem Nichts, das an Stelle der verdeckten oder vergrabenen Leidenschaft bleibt, zu verweigern? Und warum erscheint das alles wie ein Rückzug, als schliefe ich in einer Muschelschale, als ließe ich mich lebendig begraben? Dabei ist dort nichts, nichts in der Leidenschaft, was als Schicksal bezeichnet werden kann.

Und wäre es Schicksal, wer wollte nicht seinem Schicksal entkommen? Oder ist das Leben nicht ein dem Schicksal Entkommen? Dem Schicksal, das so leicht in Blicke hineinphantasiert wird, das sie schmückt und mit Begehren versieht? Das Schicksal ist die Leere des Himmels in uns, die, wenn einmal befreit, wenn sie ihren Irrsinn für einen Augenblick nur freisetzte, alles verbrennen, alles zerstören würde. Die irre Leere. Ist es denn möglich, sich nicht in das Schicksal zu verlieben?

Neonbeleuchtete Gänge, eine Reihe versperrter Türen. Als lagerten riesige Eisblöcke dahinter, um die Stadt von unten zu kühlen. Dann folgen Treppen, Aufzüge, Hebevorrichtungen. Pakete kommen am Gepäckband, die ihren zu nichts verpflichtenden Weg von hier ungeahndet fortsetzen könnten. Wie die Eisbrocken am Nordpol, die der Gletscher kalbt. Wind kommt von irgendwo her und eine durchsichtige, fotozellengesteuerte Tür springt auf.

Eine Stadt naht. Die Wiederholung ist kein Spielzeug der Zeit, keine ihrer Täuschungen, die dich in Spiegelsäle lockt, um dort tausend Gesichter zu zeigen und dir selbst das eine zu nehmen. Die Wiederholung ist das Auge der Zeit, das an unsrer Statt in die tausend Spiegel und in die Leere des Himmels in uns blickt. Die Wiederholung ist das Auge, das den Anbeginn sieht. Sie bewahrt dich vor dem Sturz, als packe sie ein übermütiges Kind am Kragen.

Plötzlich vergeht die Platzangst. Hinter der Tür mit der Fotozelle der Glanz von Lacken, Windschutzscheiben, gläsernen Wänden. Weite, offene Richtungen. Endlich Luft. Die Weite, noch allein zu überwinden, der tieferen Leidenschaft Raum überlassend. Und das ist schon einfach, wie eine Etüde. Ein Spaziergang auf den Tasten, mit großen Atempausen. Und am Ende steht das Erwachen. Erwachen neben der, die ich liebe.

Doch so lange muss ich in dieser Fremde ausharren, bis die Atempausen langsam länger werden, aus ihnen Risse, später Spalten am Körper der Stadt entstehen, in denen ich mich bewegen kann. Das eine oder andere Gebäude ist dann schon nicht mehr als zwei entfernte Stimmen, die die Stille wie eine Saite spannen und klingen lassen. Das ist eine Wiederkehr, aber nicht in das bis zum Elend Bekannte. Eine Wiederkehr vor ein lebendiges Gesicht, in den immer von woanders nahendem Anbeginn.

Du schreibst mit zweierlei Tinte. Die eine trocknet sofort, du kannst darüber streichen, sie ist leserlich. Die andere ist unsichtbar, wie die Stadt, die sich in der Wiederkehr der Lichter und Düfte verbirgt, in die du unbedacht zurückkehrst, wie auch die Frau unsichtbar ist, die neben dir erwacht, die neben dir einschläft. Was unsichtbar ist, bricht plötzlich aus deinen Sinnen hervor und zerfließt, noch bevor du einen einzigen Satz schreiben könntest. Was sichtbar ist, folgt blind dem Gesicht voller Licht. Schreibe mit geschlossenen Augen, als hättest du Zeit.
*
Der Weg der Leidenschaft ist dunkel. Er gleicht einer nächtlichen Zugfahrt, die du nicht unternimmst, um in eine andere Stadt zu gelangen,
und doch ist das dein Ziel. Wer des Nachts einen Zug besteigt, baut den Palast des Mondes, doch weiß er nichts davon, er überquert ausgetrocknete, salzglänzende Seeböden, seine eigenen unwirtlichen Gegenden, wägt Mögliches und Unmögliches ab, und ihm zeigen lediglich die am Fensterglas immer wieder aufblitzenden Lichter und die ungelesen vorbeigleitenden Stationsnamen, dass er, zwar reglos, doch nach irgendwohin unterwegs ist.
*
In jedem Augenblick teilt die Reise den Raum woanders in zwei Teile. Jeder Ort eine Station, eine Schwelle, ein Eingang. Doch du strebst einem Ort zu, der keinen Eingang, keine Schwelle besitzt, und wo man weder anhalten noch sich ausruhen kann. Nur so viel weißt du darüber heute. Dies wird der Ort deiner späten Geburt sein, dort verenden die Gleichnisse. Du bereitest dich in einem anderen Körper vor, der mit dir reist und nicht von dir zu trennen ist, so wie die Oberseite eines Blattes untrennbar mit ihrer Unterseite verbunden ist und die durchsichtige Seite des Spiegels mit der versilberten.

*
Sprich nicht von Versuchung! Die Wiesen der Tage sind an die blinde Seite des Spiegels geraten, du hast nichts, um dich darin zu erblicken, und der Anblick der Gesichter, eines Mannes um die fünfzig und einer jungen blonden Frau, lassen dich in einen kurzen Schlaf driften. Du sitzt an einer felsigen Küste, dunkle Basaltsäulen über dir, und das Wasser mitsamt den Säulen, es wogt nicht vor deinen Füßen, sondern oben, in einer Höhe von mehreren Stockwerken. Du kannst nichts tun, es stürzt bald herab. Und doch schnürst du dir die Schuhe und rennst wie ein Verrückter auf die dunkle Felswand zu.
*
Du lebst in mehreren Körpern. Du kannst die Reihe der Minuten, ohne Vergangenheit und Zukunft, wie Perlen auffädeln und die Milch der Nacht bis zum Ersticken trinken, doch selbst wenn du in der Ferne bist, kommst du einmal zurück und in dem Körper, den du verlässt, beginnt die Zeit sich zu messen. Die Minuten begehren Stunden, die Stunden Tage, die Tage Jahre, und als rissest du einen leichten Heftfaden ab, reißen die ins Nichts ausgestreckten Arme ab vom Körper, die gespreizten Schenkel, der abgewandte Kopf: die Nächte zeugen wider dich, deine Schritte ums Haus hinterlassen Spuren eines Diebes.
*
Gäbe es den Pinsel, der jetzt dein Gesicht malte, müsste er dich als Blinden malen. Seit langem schon siehst du mit deinem Körper. Darin wohnen die Augen und in ihnen das Begehren, das dich zum Leben und zum Sterben, zum Hiersein und Verschwinden zugleich ruft und deinen Körper in zwei Teile reißt: vergeblich schweben wie frischer Tau, weibliche Düfte auf deine Haut, du musst aus dir heraus geboren werden. Sauge die Kraft aus der Erde! Wenn keiner zugleich von zwei Plazentas genährt werden kann, so nähre dich gar keine, sei du das Begehren deiner Selbst, die Erde, die dich, den lange erwarteten Geliebten, in sich birgt
*
Die Stadt, in die du im Morgengrauen zurückkehrst, kennt nicht die Sprache der Sehnsucht, des Rausches, sie kennt nichts, das sich verändert und flieht, das im Verschwinden erglänzt. Doch tritt du trotzdem so auf den weiten, von Palästen gesäumten Platz hinaus, als wärest du gekommen, deine eigene Zeit neu zu beginnen. Wie viele unermüdliche Lügen! Doch wird die imperiale Monumentalität seit Jahrzehnten vergeblich gezähmt. Das Siegestor, errichtet für den Einzug des Irrsinns, mahne dich nicht zum Frieden! Dein Krieg beginnt erst jetzt. Dein Dasein sei reines Vertrauen und Verlangen: sei beständig in der Vorbereitung!

Der letzte Personenzug hält knirschend am äußersten Bahnsteig.
Die Geister, ihrer dunklen Körper überdrüssig, nehmen sie
zurück, und wer einen Regenschirm besitzt, baut sich
im tröpfelnden Regen sogleich nach Betreten des nassen
Bahnsteigs einen Bunker, blickt zu den geschlossenen Kiosks
und bereitet sich vor auf den ersten Angriff. Die Stadt schließt
die Augen. Sie schaut nicht auf die zerstörerischen Absichten.
Sie wohnt immer lauter und hat das krankhafte Hoffen
aufgegeben, seitdem will sie Tag und Nacht essen.

Wo die Küche gut ist, kann die Zeit locker dreißig Jahre
zurückgedreht werden. Solcherart werden Restaurants
wieder zu Verstecken der Geschädigten. Karierte Tischtücher,
quietschende Türen, Pfeffer, Salz und Zahnstocher auf den Tischen,
doch das Rauchen ist bereits verboten. Es ist doch besser,
die gleichartigen Erscheinungen der Pogrome draußen abzuwarten.
In den Vorstädten durchbohrt das Unkraut mit seinen Wurzeln
den Beton, doch fahren die Straßenbahnen an den Ringen
auch noch nach Mitternacht. Und mit den Rettungswagen flüchten

noch nicht die Mörder. Also ist die Ruhe begründet. Was auch
geschehen mag, die Musik der Schienen ändert sich nicht,
und auch der Regen fällt nur auf den, der kein Bett hat.
Und auf die Blumen am Podest des Denkmals. Keiner vermag
den Krallen des bronzenen Vogels das Schwert zu entreißen.
Das Gesetz der Zeit gilt, wie das der Winde: Einerlei woher,
Hauptsache, sie wehen. Schickst du von hier eine Karte, schreibe
nichts anderes. Und verrate auch nicht den Namen der Stadt.
Bis zum Morgen kommen wir schon zurecht in den Bunkern.
Die Zementplatten glänzen draußen im Neonlicht.

Ein schwarzer Klumpen Lehm, bei der Schneeschmelze
übrig gebliebene schmutzige Wechte, anscheinend.
Es dunkelte schon, nichts von der Landschaft zu sehen

als bleierne Felder, die Scheiben beschlagen,
wir näherten uns, er schien sich zu rühren,
als höbe ein Wintermantel den Ärmel,
ein Autostopper-Schatten, an den Rand der Strasse geschleudert,
überfahren von Scheinwerferkegeln
Mal war er zu sehen, mal nicht, doch jeder Fahrer machte

bei ihm angekommen, einen Bogen,
ich suchte das Bankett ab, nach ihm,
und er war auf einmal da. Ein Torso im Sinken,
so stützten sich die Vorderbeine ab im Strassendreck,
er hielt die Nase in den Wind, als wollt’ er weg,
der Oberkörper wachte. Doch ich sah dahinter
auch den unteren Teil liegen, zermalmt zu Brei.
Die Hinterbeine schlugen im Rhythmus des Schmerzes
gleichmäßig auf das blutdurchtränkte Fell,
der halbe Hund saß da, das Maul geöffnet,
und ich sah in seinen Augen, dass er alles sah.
Ich schrie dich an, bleib stehen, fahr ran,
so rette ihn doch, flehte ich, mach was, überfahr’ ihn,
wenn doch einer hinter uns ihn endlich

überfahre. Doch was kann man tun?!
Was man tun kann? – fragtest du dann laut,
was willst du, soll ich tun?! Jetzt sag’, was soll ich?
Ich wollte, dass du anhältst, ihn nicht so einfach dort lässt,
nimm ihn mit, bring ihn um, wenn du ihn schon siehst.
Der Hund war zwischen uns, die ganze Woche,
wir dachten, zu Hause wäre es dann besser.
Als hätten wir ihn auf den Straßenrand geschleudert,
und müssten ihm nun ständig ausweichen mit Worten.
Doch ich konnte trotzdem nicht nicht-wollen, dass du dich des Abends
beugtest über mich, ich schaute deinen angespannten Arm an,
versuchte, nicht zu denken an den Körper,
wie er sich abstützt, dort am Strassengraben,
an seine rhythmische Bewegung, während
dein Blick die Ferne anstarrt, ohne Antwort,
wie viel, wie viel verbissene Entsagung doch

darin steckt, wie du mich liebst,
wie du mich fragst, was willst du, soll ich tun,
während du auf das Lenkrad schlägst und mich nicht ansiehst,
und hinter deinen Schultern sich die Landschaft auftut,
im Nieselregen weichend, mit dem Winterhimmel voller Blut.

                                                                                                                                                                                                                         Für Zsuzsa Beney

Im Buch des Dichters, der nicht mehr lebt,
ist neben dem Gedicht, in dem er von einer Frau geschrieben,
die nicht mehr lebt, ist wie eine Blume aus Dreck, die Fußspur
meiner Katze erhalten geblieben.

Sie schlich sich dort immer an,
weil sie der Spalt zwischen den Seiten
sehr reizte, sie wartete, ob die Maus
einmal herauskäme,
(auch die Katze ist lange schon dahin).

und wirklich, dort in der Tiefe des Tunnels
aus Papier regt sich dauernd etwas:
wir haben dies und das zwischen die Blätter gelegt,
um die Zufälle wie Blumen zu pressen.

Üppig zum Frühstück gedeckt, das Mundtuch von strahlender Frische,
Schinken mit Ei, dazu Juice, hier das Müsli, auch Käs’, was auch immer.
Flugs wird der Korb mit Gebäck, da der Platz ihm ermangelt, hinter den
Hausherrn gestellt, aufs Buffet. Ja, die Hälfte der leckeren Bissen
kannst du nur schwerlich erreichen, die Frühstücksgenossen, sie werden
ständig mit Bitte und Danke belästigt, und wenn auch die Arme,
heischend gereckt vor die Nase, die Säfte des Magens dir nicht ganz
lassen versiegen, so schwindet die Lust doch beträchtlich. „Ach, nimm noch!
Tanke nur auf! Daß du ja nicht im Urlaub mir hungerst!“ So spricht die
falsche Verbindlichkeit: „Den Urlaub nütze, genieße er dient der
Ruhe, Erholung, genauer gesagt, daß du endlich entspannt bist.
Kannst du dich nicht doch ein wenig nur sputen, ein bißchen beeilen,
Massen von Wartenden stehn schon jetzt in der Schlange, und wie wird es
später erst werden! Ein Stoßen und Schieben, erregte Debatten,
beißender Schweiß, und so weiter. Na ja, die Saison! Vor der Kasse,
glücklichenfalls, sind noch keine Millionen.“ Du ahnst es, du fühlst es
immer bestimmter, zu Hause wär’s besser. Es ist nur, dir wurde
deutlichst gesagt, und mit aller Bestimmtheit: Du bist hier zu Hause.

Sie verrät und verlässt mich.
Sie stößt mich aus und verlässt mich.
Nährt mich aus sich und verlässt mich.
Wiegt mich, verlässt mich.
Streichelt mir die Sohlen, putzt mir den Po,
kämmt mir das Haar und verlässt mich.
Ich trink' ihren Duft, sie drückt mich an sich:
"Ich verlasse dich nie" und verlässt mich.
Sie heuchelt, lächelt: "Hab keine Angst!"
Ich friere, hab Angst - sie verlässt mich.
Sie legt sich abends zu mir auf das Bett,
dann schleicht sie davon und verlässt mich.
Groß ist sie, warm, mein lebendiges Nest,
sie küßt mich summend, verlässt mich.
Sie füllt mir die Hände mit Zuckerwerk,
hier, nimm und iß - und verlässt mich.
Ich heule und tobe, drück sie an mich,
halte, haue und doch: sie verlässt mich.
Sie verschließt die Tür und blickt nicht zurück,
ich bin ein Nichts, wenn sie mich verlässt.
Ich warte auf sie wie ein zitterndes Tier,
sie kommt, umhalst und verlässt mich.
Ich will sie, das Leben ist Tod ohne sie,
sie hebt und wärmt und verlässt mich.
Ihr Arm ist schwer, doch ihr Schoß ist mein Haus,
ich will nur sie - sie verlässt mich.
Eins muß ich lernen, ich bin nicht sie,
fremd ist sie, fremd, und verlässt mich.

Weit ist die Welt, du wirst schon erwartet.
Du findest schon eine, die du verlässt.
Schließe die Tür und blick nicht zurück:
warten ist leichter, fahren ist schwer,
eine verrät dich, eine verwaist,
eine wird warten, eine sich fürchten,
eine geht immer ohne Wiederkehr,
die dich gebiert und stirbt und verlässt dich.

I.

Unser Name ertönt im Lautsprecher
und wir springen auf. Unser Name
wird falsch geschrieben, falsch ausgesprochen,
doch wir lächeln ergeben.
Aus dem Hotel nehmen wir die Seife mit
zur Bahnstation gehen wir zu früh.
Mit schwerem Koffer, in weiten Hosen
lungert überall ein Landsmann herum.
Die Züge fahren mit uns in die falsche Richtung,
und wenn wir zahlen, rollt uns das Kleingeld aus der Hand.

An unseren Grenzen haben wir Angst, über sie hinaus
verirren wir uns, aber wir erkennen einander.
Wir erkennen auch am anderen Ende der Welt
das vom Lampenfieber durchgeschwitzte Kleid.
Unter uns bleibt die Rolltreppe stehen, uns reißen
die Henkel aus den prallen Tragetaschen, und gehen
wir hinaus, heult der Alarm los.
Unter unserer Haut steckt ein strahlendes Schmuckstück,
der Mikrochip des schlechten Gewissens.

II.

Ich weiß wo du wohnst, ich kenne diese Stadt
Ich kenne diesen schwarzen Wasserfall.
Deine Mutter hat sich am Dach gesonnt,
im Sommer habt ihr im Bergbausee gebadet.
Ich kenne den Beinamputierten,
der im Toreingang wohnt.
Ich kenne dieses Land, seine
Züge, sein Weinen, seinen Chlorhimmel,
seinen sauren Regen, seinen trägen Schneefall,
seine zu warm gekleideten, blassen Säuglinge.

Ich weiß wo du wohnst. Wo auch immer du lebst,
im Traum verfolgen dich verstümmelte Robinien
entlang der Straße, denkst du an die Heimat.
Nach dem Fest, wenn man den Baum, wie einen allzu schweren
Leichnam, an den Füßen zerrt, bleibst du stehen
und siehst zu, wie man ihn zu den anderen wirft.
Ich weiß, was du siehst. Den wirren Haufen menschlicher Körper,
auf ihren ausgestreckten, gelben Armen manch
vergessener Schmuck: eine blau-goldene,
geplünderte Weihnachtspraline.

III.

Ich heiße Alina Moldowa.
Komme aus Osteuropa,
meine Körpergröße beträgt 170 Zentimeter,
meine Lebenserwartung 56 Jahre.
In meinen Zähnen trage ich Amalgamplomben,
in meinem Herzen die ewige Beklemmung,
Mein Englisch versteht niemand,
mein Französisch versteht niemand,
akzentfrei spreche ich
nur die Sprache der Angst.

Ich heiße Alina Moldowa.
Meine Herzklappe ist eine unbewachte Schranke,
in meinen Adern fließen Gifte,
meine Lebenserwartung beträgt 56 Jahre.
Ich kann meinen zehnjährigen Sohn tragen,
besorge Mehl, steige in einen fahrenden Zug.
Du kannst mich schlagen, schütteln,
nur mein Ohrring klappert
ein losgelöster Teil
in einem Motor, der noch läuft.

I.

Drei Kerzen brannten in des Hauses Hölle,
und Klinker schmückten das Kellergewölbe,
die Flammen tanzten, als die Gäste kamen,
wir feierten an jenem Tag den Hausherrn,
er führte uns zum Heizkessel, der summte,
legte den Arm um dessen Taille und erzählte,
wie sie gekommen, wie sie das Haus gekauft,
und dass der Keller ihm sein Um und Auf,
ihm sei zum Fünfzigsten das angemessen,
und dass die Freunde endlich trinken könnten,
ich starrte auf das Ei, gefüllt mit Kaviar
und dachte an ein Krebsgeschwür im Eierstock,
an die Niere des Durchlauferhitzers, wie
er funkelnd und vergesslich Wasser hochpumpt
in den ersten Stock und sah, „Auf euer Wohl!“
das Herzblut einer schönen Flasche fließen.


II.

Ihr war es kalt, es brannte eine schlanke
Kerze in ihrem Leib, sie setzte sich zu
nahe an die Flammen, ich schwieg, entfernte
nur die Fülle, nahm Kartoffeln zu dem Ei,
wir stießen an, der Sekt war süß wie Honig,
neun Experten sprachen über den Garten,
ja, Bäume schon, doch auch genügend Rasen,
und einen Platz zum nackten Sonnenbaden,
neun Münder lobten seine tolle Aussicht,
dann stellten wir uns alle neun zum Fenster,
träumten vom gekiesten Weg und Biotop,
der frühe Frost ließ das „bei uns“ erschauern,
dann tanzten wir wie Taucher unter Wasser,
hinter Panoramafenstern nur das All,
aus Bodenspots ergoss sich Licht wie Algen,
Raureif rieselte auf Doppelporotherm.

III.

Wir feierten an jenem Tag den Hausherrn,
und neben mir sprach eine von der Zukunft,
und dass es immer schwerer ist für einen,
der in die Gegenwart von dort hereinblickt,
der Schütze unterhielt sich mit der Waage,
indes verging im Wachs die Kerzenflamme,
und drüben starb die Samba am Gelächter,
- keiner konnte sie, doch jeder tanzte mit -
wir fanden dann die anderen im Keller
und sagten ihnen, es sei kalt geworden,
das Treppenhaus lag plötzlich ganz im Dunkeln,
und jeder Schritt verlangte eine Stütze,
- keiner konnte sehn, doch jeder wusste wie -
wir fanden endlich alle Sicherungen
und standen dicht an dicht unter der Wölbung,
weiß von der Wand waren die Tänzerjacken.

1. Die Annäherung

Das lebendige Fleisch vom reichen Faltenwurf
der Tücher rundum verhüllt:
sie hüllten gut und gerne fünfmal mehr an Menschen ein.
Enthüllte jemand alle, schälte er
die Körper aus den Tüchern,
häuften sich die Stoffe alle, in sich selbst gemustert, purpurn,
nachtblau und smaragden, und wie Menschenhaut, zu Berge.
Zu einer Bahn vernäht ergäben sie ein Meer,
das auf der Bühne wogt, von Statisten allseits
auf und ab bewegt,
eine weit geblähte Plane spielte Dünung.
Alles Fleisch geht ab
von bloßen Knochen,
eine veritable Fleischerei,
viele Zentner roten durchzogenen Marmors.
Verklebte Haare, Bärte werden umgestülpt:
Fellmützen, triefend naß.
Sonnenstrahlen klingen,
goldne Saiten aus Därmen,
sie fügen Bein an Bein, des Fleisches ledig,
schon hebt sich hoch zum Himmel
locker das Gebein, die Knochen klirren
aneinander, ein Kollier, und Splitter
aus Horn klappern im Wind, Knochenmusik
des Himmels ertönt am Xylophon.
Die vielen Stoffe haben sicher
ihre Farben ausgeblutet,
ich steh’ im Roten und Blauen,
das Indigo arteriellen und venösen
Blutes tränkt meine Sohlen.
Meine Hand wühlt in das verfilzte Fell des Lammes,
es wird willfährig verschluckt,
bis an die Ellbogen such ich, erforsche
die heiße, pulsierende Haut, doch überall
finde ich Vlies nur und Wolle, ich bin schon zur Hälfte versunken
im Lamm, es gibt keinen Körper,
ich tauche sanft ins Körperlose,
als glitte ich durch Öl,
so verschluckt mich der wollene Ballen,
die Fasern kitzeln die Nase und reizen zum Niesen,
kitzeln die Ohren und machen mich lachen,
mich jucken die Zellen, sie alle erglühen,
im endlos langen Schweben scheuern
die lockigen weichen Fäden
von mir alle Kleidung,
die Haare, die Haut herunter,
einzeln fliegen die Bumerangs
meiner Knochen schließlich
über die wollige Schneelandschaft.

 
2. Das offene Buch

Ich halte das Buch geöffnet,
vollgehäkelt von Klöpplerinnen
mit fortlaufend rastlosen Käfern,
ihr Krabbeln und Ticken schlägt mir
von den Buchseiten entgegen.
Und doch fehlt so viel daraus,
zu wenig des Raumes
Rauhreif, zwischen die Zeilen zerrieben,
Sonnenschein, zwischen die Lettern gemahlen.
Es brauchte noch einige pralle Luftblasen
in die Schlingen der Os, der Ks, der Es.
Die Luft um das Lamm herum zittert
vom Flügelschlag heimlicher Schmetterlinge.
Ich warte, daß einer von ihnen
sich niedersetzt auf das Buch,
um dann die Schrift
plötzlich zuzuschlagen.
Gelingt es mir, einen Falter zu fangen,
wird es dem Buch an nichts mehr ermangeln
fürderhin.
Ich brauche es gar nicht aufzuschlagen,
es hat wie mit glühendem Eisen
sämtliche Buchstaben
mir ins Gehirn gebrannt.

 
3. Weihrauchschwenker

Wir rammten den Duft wie ein blitzendes Messer
in den Altartisch.
Vergeblich das Zerren und Ziehen,
es kommt nie und nimmer heraus.
Aus seinem Heft sprießt ein Weihrauchbusch,
er wächst zur Menschenmenge hin
und teilt sich in parallele Ströme,
die füllen die paarigen Nasenlöcher,
setzen Laub an in der Lunge,
bilden kristallene Tuberkelknötchen.
Wenn alle dann nach Hause gehen,
brechen die Äste mit gläsernem Klirren
vom Stamm und bleiben auf immer
in den Atemwegen der Frommen.
Von ihren Zungen vergeht nie mehr
das kühl versengende Feuer
der frischen Minze.


4. Der Springbrunnen

Aus einem formbaren, harten Material wie diesem
lassen sich Perlenschnüre sehr schwer ziselieren.
Die einzelnen Glieder verjüngen sich oft
zu zähen, gezogenen Fäden
und reißen wie Teig.
Tausende eisige Fingerkuppen betasten
unsere Hände, Ellbögen, Gelenke,
bis sie von unserer Haut abperlen.
So wechseln sie die Form, ohne Unterlaß:
was bisher Lücke war,
das schließt sich jetzt zum knorrigen Knoten,
was jetzt noch rieselnder Sprühregen ist,
das schwillt zur wiegenden Mutterbrust an,
reift zur schweren Frucht, vielkarätig.
Und doch, als fädelten wir die ganze Welt
durch den engen Querschnitt eines einzigen Menschengehirns,
so führen wir durch den feinen silbernen Trichter
alle unebenen Meere, alle bissigen Kaskaden,
sämtliche Flüsse mit ihren tanzenden Ballen
und alle Seen, diese kopfunter hängenden,
bildsamen Heuschober.
Wir posamentieren die Luft
mit allerlei Fäden aus Glas.

Jetzt, wo du nicht bist, mehre ich dich.

Du zeigst dich an salzigen Scherben
meiner Augen wie eine Urzeitkreatur.
Wo ich dich ehedem las
wie Gottes erste Schriftzeichen.

Unsere Körper erreichten die Meere
den Plan der Instinkte am Morgen befolgend.
Noch waren wir nicht zu Sand und Welle
zerfallen, noch war mein Schiff kein Schwemmholz.
Unsere Überwelt war dem Himmel verbunden.
Wir liebten einander
in bärenschattigen Wäldern.

Auf dem Eis der Erinnerung schreite ich jetzt.
Und ich denke an dich, mein verlassenes Land,
an den Wildwuchs, gezwungen
in so manche Ordnungen.
Du bist meines langen Rausches schwankende Laterne.
Ich schreite auf frostigem Boden, suche den Ort,
wo ich dich begraben, sehe die Endgültigkeit des Unmöglichen.

Ich bin endlich. Wie sollten meine Gedanken,
Taten endgültig sein? Wie könnt‘ ich das Schwerste
auf immer und ewig hinter mich bringen,
die abgetriebene Liebe?

Alle Schlösser besiegt eine spätere
Zufallsbegegnung, ein alles vermögender
Dietrich! Im hintersten Winkel des Denkens
patrouilliert die Magd namens Hoffnung.

Glocken werden geläutet gegen die Dürre.
Gegen den Winter brennen die Puppen aus Stroh.
So dachte auch ich hinter Träumen verborgen,
den ich begraben, werde wiedergeboren:

daß er stürbe, um zu mir zu kehren,
wie ein Karstbach zutage tritt, wie
Persephone auf der Erde erscheint
und im froststarren Februar
in die Oberwelt findet.

Freude raucht nur in der
Sternschnuppen Kondensstreifen.
Ewiges Leben währt nur im Verlust.
Wer Angst hat, wird nie zur Ganzheit reifen.

Wie die durstige Nacht sich zum See beugt,
so erkaltet an mir, wie die Leidenschaft,
meine Einsamkeit.
Jetzt platzt ihre kalte Haut auf.
Ich steige auf in den Himmel –

Mond bin ich, befreit!
Mir allein gehört das Alleinsein.
Nicht mehr schleppt mich die Vorzeit
mit, sie läßt mich an meine Ängste heran:
sie glitzert über mir in tausend Scherben.

Stein bin ich. Gedenke ohne Sehnsucht.

Im Norden hier, wo die Sonne schnell sinkt und
der schütter gebrochene Regen nieselt
und rieselt, fährt mir nur Wind in die Haare,
Alleinsein begräbt

mich wie faulendes Laub. Gras überwuchert
die Tür, gib acht! Wer sollte schon öffnen?
Die Einsamkeit, einst heiß ersehnt, überwächst
nun alles um mich.

Was soll sie bringen? Das Leben über
das Salz, den Honig zu heben. Sie ist
der Berg, dessen Spitze mir Weitblick gewährt
auf frühere Zeit.

Tiefe Gespräche vergehen, abgefallen
die Welt, das Gewicht, mein Verstellen
vertrocknet, - wir nähern uns meines Daseins
wurzelndem Wesen,

der Schwerkraft des punktverdichteten Körpers.
Worte aus Lava bersten, das Leben
der toten Eltern nimmt mich erneut,
endgültig aufs Korn.

Verwaist im Gedicht. Was geheim war, bringt es
ans Licht, es bestiehlt dich, raubt deine Schätze.
Kein Buch, kein Film kann die Nächte dir
kühlen, erwärmen.

Ich fürchte, ich bin am Verwildern, darum
such ich Heil auf der Wiese, im Garten,
am Hof: da zerpflücken langbeinige Vögel
mir meine Rhythmen.

Was ist Alleinsein? Erkaltende Brammen,
Schwärze, blindes Geknister. Birken leuchten
nackt aus finsterem Forst, es riecht nach
frischem Fiasko.

In ungemessenen Massen der Vorzeit
verborgen in Milliarden Gestalten
in jeder nur möglichen Zufälligkeit
bewohnte ich viele kleine Trabanten.

Schon alles vorbei, hab alles begangen:
Gutes und Böses. Nichts soll mich hindern.
In mir will das andere Wissen prangen.
Die Worte sind da, doch kein Erinnern.

Wer aus der Leere ersteht zu Ewigkeit
tritt aus dem Nichts in lichte Qualen. Die Zeit
des Daseins auf Erden ist gekommen.

Von schönen Eltern gezeugt in Wonnen.
Das Kindchen: erlöst von der Nichtigkeit
ist durchs enge Lebenstor gekommen.

Es wär` so schön, nach meinem Tod
aufzustehen, wie ein Boxer
und wie von außen, linkisch, lahm
das Kommende zu überdenken:
Wie lange geht’s noch? Elend? Glanz
für den, der wesensgleich mit mir?
wann ist es aus, und ist die Grenze
ein Felssturz? Oder ein Schleier nur?
Wo endet schließlich der Tunnel?
Gab es ein Bild in meinen Augen?
Was kam danach? Wann war es erloschen?

Ich weiß nicht, was geträumt nur war:
die Verderbnis, die Vollendung,
sie fachen mich an, löschen mich aus.

Ich kann jetzt schreiben, weil ich lebe.
Ich wollte, ich könnte furchtlos leben,
doch falsch ist alles in dieser Enge.
Und die Angst ist unentschuldbar.

Ich wünschte, ich wüßte, was ich ahne,
was sicherlich eintreten wird:
weit öffnen sich alle Verstecke.

Was gefügt war, das zerfällt jetzt.
Was seine Bahn zog, steckt heillos fest.
Der Schatten huscht schneller über die Wand.
Hör‘ ich den Korpus der steinernen
Stille, die knotige Masse?
Nichts mehr verbindet, nichts mehr führt
irgendwohin:
wie durch Zauberei lassen die Zellen
die Hand der anderen fahren.
 
Der lebendige Körper: das Wesen
rotierender Zeiten - doch jetzt schon die
schiere Präsenz. Verklärt von keiner
Magie noch Zauber:

Anfang und Ende glühen in zwei
verankerten irdischen Orten.
Zwar erklomm ich die Höhe der Sterne,
doch Nichtiges brennt mich bis in die Knochen.

Der Anfang
                    ein Strom aus einem Tropfen.
Nur Leben gebiert das Leben.
Das, was lodernd durch Tausende
Jahre brennt: ausgehaltener Ton,
Abbild der lohenden Fackel,
flüssigen Irrlichtern gleichend.

Das Ende
bricht selbst in die Nichtigkeit ein.
Der Tod unterwäscht alle Ufer:
du hörst keinen Ton, nur die Abwesenheit,
die Pausen kreischen, die Stille schreit.
Im Krankenhausflur ein eiserner Eimer,
verbeult und verdreckt – und der Rückzug,
das sehnende Sinken. Der Sterne
gefügte Ordnung entschwindet.

Welche Kraft wuchs heran in mir, die mich
aus dem Nichtsein zum Glänzen gebracht?
Die Endlichkeit nimmt mich nun auf,
Die Heimat aus finsterer Leere.
Sie zischt aus dem Eisenstaub,
durchzieht mein ganzes Leben,
stößt mich und wirft mich von neuem
ins All, wo mich das blutige Tuch
verschlissener Träume empfängt.

Anderssein glüht durch die bunte Flamme.
Mein Verfall, der Erfüllung heiße Schmelze.

Leben zum Leben, Tote zu Toten –
so heißt es. – Verfehle es nicht.
Du wirst sonst zu schwarzen Schatten verwoben.

Und doch, und doch
möchte ich sehen,
wie der Tannenzapfen, der ich bin,
nach seinem Tode, danach,
seine Schuppen weit öffnet.

Ein Monat, anderthalb
hindämmernde Zeit,
durstiges Warten und
wasserfleckiges Schuhwerk.
Düstere feuchte Dämmerung,
darin schwebend
die dünne Kindheit – Orangen
und fünf Paar Männersocken.

Zeit, in welcher geheime
Gewißheit zittert:
es gibt einen Sieg, das Öllicht
flammt auf, es lodert und fackelt!
Das winterliche Dämmerlicht
strandet auf unserem Haus
und wirft seine grünliche Haut ab,
es sinkt immer tiefer.

Das Fest hielt Wache über der Stadt
oder hinter dem Frost
und wiegte den grünen Nebel.

Ich nahm das Fest in mir auf, verstohlen.
Es hatte kaum mehr als im Alltag gewogen.

Doch sag, was ist dieses Fest,
dieses Streulicht, der Funke, der aus einer
Stichwunde sickert, der zischt und prasselt
und Hunderte Nadeln versprüht?

Das Fest ist weit von allen Tagen entfernt.
Wie die Zeiger der Uhr von der Zeit.
Mein Herz schweigt von Jahr zu Jahr anders.

Die Maschine keucht, klappert und knarrt.
Weihnachten kommt immer schneller.
Der Winter wickelt sich auf wie ein Verband.

So viel Trauer ergießt sich unter dem Mond.
So viele Frauen gebären, so viel Trauer gebiert
das rauchende Eisen.
So viele liegen bereits,
Krähen, zu Haufen geschossen,
vor der Schwelle des Sieges.

So viele Leiber, verflochten,
bezeichnen einen einzigen Ort.
So viele Kerzen brennen
an Stelle der Sterne fort.

Sie naht,
ich fühle es, über die großen Wässer
gleitet sie immer näher heran,
die heiß ersehnte
feurige Botschaft
in einen Brustkorb geschlossen.
Ein rotes Stimmband
würgt meine Kehle.

Das Fest bleibt ewig, in weiter Ferne.
Es flieht die Vollendung. Beraubt mich seiner.
Nicht eingelöste Verlockung, nur heuchelnde Wörter.
Versprechungen Gottes, ein fauler Wechsel.

Der Raum erglüht, er weitet sich aus.

Ein gleißender freier Tag im Kalender.
Hier ist das Fest ein samtener Mangel.

Ich seh‘ den gestern ruhelosen,
der niemals eine Rast gebraucht,
in meinen Armen lag er Morgen
für Morgen, er hätte ausgehaucht
viel lieber, als sich abzuwenden ... 
Jetzt schnarcht er eine andre an
und dreht sich müde zur Wand, geschlaucht.
Jungs, auf ein glückliches Leben!

Der hier will keine Frau mehr sehen,
er prahlte einst: Es gibt zu viel!
Heut hängt‘s von ihm ab, aber stehen
kann er nicht in der Woche zwier.
Er war ein Guter! Seht, jetzt ruht er,
schießt nicht einmal ein Eigentor,
die Leidenschaft hat ausgeschossen.
Lebt Burschen, ein feines Leben!

Und jener mit dem dichten Brustpelz,
ein Held der Gürtellinie
und tiefer, der immer des Sommers
den herrlichen Barolo trank
und in die durstlöschende, dichte  
üppige Himbeerschlucht eindrang,
der Honigsucher, auch er dahin ...
Lebt, Kerls, ein glückliches Leben!

Denn ich, die durch des Körpers Masse
die Last der Jahre merke bloß,
mit einem Stern verwandter Rasse
vergnüg ich mich, und der ist groß,
der mir hell leuchtet immer wieder,
der eben küßt die Stirne mir,
und wenn ich will, dann auch den Hügel.
Glücklich sollt ihr Herren leben!

Fort ist die Jugend, nicht das Feuer,
und mir zur Freude dient nur Er:
er ist mir lieb, er ist mir teuer,
und niemals ist er mir zu schwer.
Hell lodert meine Leidenschaft,
im Alter soll ich Trübsal blasen?
Geht und neidet nicht Saft und Kraft!
Lebt froh, ihr Bengel, das Leben.

Widmung:
Fechte den Strauß, so lang du lebst:
Friß Seidenhaut und lutsche Flecke,
halt wenigstens die Ohren steif!
Ihr seid mir Trank, ihr seid mir Speise -  
lebt wohl, ihr Jungs, ihr sollt leben!

ITEM

Das Feigste sind die Männer doch!
Die Frau ist mutig, geht sie fremd.
Der Held haut ab, er sucht sein Joch,
sein sichres; reuig heimwärts rennt 
der bange Kämpe samt Gerät,
was er besitzt, das freut ihn nicht.
Angst und Lust teilen nie das Bett.
Denkt frohgemut zurück an mich.

Damals, in jenem Krieg wurden
zweihundertvierundsiebzigtausend fünfhundertachtundsechzig
Jesusse
umgebracht.
Laßt uns davon
dreißigtausend sechshunderteinundneunzig
abziehen, die selbst getötet haben.
So bleiben
zweihundertdreiundvierzigtausend achthundertsiebenundsiebzig,
in Zahlen: 243.877.

Seht euch um.
Bringt in Erfahrung, wann sie geboren wurden.
Weihnachten ein jeder Geburtstag.

Der Herr
gibt für uns
seinen vielgeborenen Sohn,
gottverdammt viele Söhne hin.

Mamachen,
sieh, ich sitze hier,
als Steinbock erdgebunden
in filzig feuchter Kälte
und sauge Sonnenwärme,
um in der Fische Zeichen
im Vers zu dir zu segeln.
Näher die beiden Zeichen,
als wir, die wankelmütig
uns voneinander stoßen.

Du ziehst mich trotzdem an dich,
ich warte in der Ferne,
daß wir uns sanft berührend
erneute Kraft verspüren.
Steh du in meiner Bahn und
rufe mich beim alten, nur
dir bekannten Namen. Nichts
anderes wünsche ich mir. Nur du
vermagst mich zu finden, nur
ich suche dich, ganz allein

Du sprichst die Sprache meiner
Dichtung, des offnen Käfigs,
mein flottes Schwalbenzwitschern,
Sag, muss die Hälfte weg?

Mitnichten.
Sieh nur, wie wir
Komplizen uns festhalten
an einem feinen Lachen.

Du kommst mit Hörensagen,
worauf ich lang gewartet:
leg deine Ulmenhand mir
die fünfzackige Krone,
fleckig und zart, aufs Haupt.