Raffael Keller 
Translator

on Lyrikline: 10 poems translated

from: 中文 to: 德文

Original

Translation

向杜甫致敬 / Xiang Du Fu zhi jing (jie xuan)

中文 | XIAO Kaiyu

这是另一个中国。
  为了什么而存在?
没有人回答,也不
再用回声回答。
  这是另一个中国。

一样,祖孙三代同居一室
  减少的私生活
  等于表演;下一代
由尺度的残忍塑造出来
  假寐是向母亲
  和父亲感恩的同时
学习取乐的本领,但是如同课本
  重复老师的一串吆喝;
啊,一样,人与牛
  在田里拉着犁铧耕耙,
  生活犹如忍耐;

这是另一个中国。
  讲汉语仅仅为了羞耻,
当我们像啤酒,溢出
  古老语言的泡沫,就是
没有屈辱感, 也没有荣耀。
  牙膏、馅饼、新名词
  引文和人类精英
之类蠢头衔换掉了嘴巴的
  味觉,谁肯定呢,
  这不是勾践的诡计?

熟悉的城市在变成
  另一座城市,相同的
  楼群,带着
小片伤疤(郊区的小河
  流着临时码头淌下的坏血)
家家电视收看一部连续剧,
  几个人杀人,缺乏
  正义感但是幽默。
(说到“人性”,警察认为,
  得睡一觉,美美地。)
  至于诡计将否定
我们所说的和所习惯的绝望,
  机关里准备了最佳理由
  让喜悦来统治表格。

啊,我在河北、长江和上海的
  灰色漩涡——
  停电,停热,停水——
辨认出神仙的行踪,
  我轻蔑地恭敬地出神,
  我看见了另一个人。
街头的熊熊红色舔食着他
  那肉感的柴薪竭力证明
这是另一个中国。
  勉强算是“中国”的遗迹。
可是在菜场,在阅报栏前,在其它
  次重要场所——奇迹般地——
      生命信念
把两个中国的臣民沟通;
  一侧是男人做女红。

不读你们的日记
  我也谴责你们的苦衷,
  (栽花养草,说废话)
那幸存者的委屈所控告的飘逸
  构成了妖媚的判词,
 “句法,风骨”,
简直就是稀泥。我恶心
  你们发明的中国,慢速火车
  缀结起来的肮脏国家,
照着镜子毁容,人人
  自危 ,合乎奖赏,
 (火车开过来了)

山顶和楼顶上的望远镜
  放大的局部痛苦
使得我比你激烈——在街头
  我向一个老头撒娇:把你
  说已经给我们的东西给我们!
给?就是给。老头领
  和老现实,拒绝
  妥协,别无它途。
我面对着的倒是我所缺乏的,
  国家,支配,某一天,
  和自由的能力。

麻雀的黄昏理论可以休矣!
  恐龙轻飞的哲学,
  必须饶恕九十年代的
中国人,他不能崇拜沉默。
  翻译就像风疹。
  斜眼是合适的,
合适而又警惕。哦,交集着
  悲哀和糊涂,坐在门前的
  泥地上:孩子们
喊叫着走过;命运尖厉的哨声
  控制着成长。睡前
  读《人间喜剧》。
  
这是另一个中国。
  只是为了存在。
不是官僚的,而且是反官僚的。
  我们的生活就象我们
  躲躲藏藏,可是我们
目的并非痛苦,也不是
  因此折腰,自言自语,  
  喃喃地,“你,你呢?”。     


(1995.8)

© Xiao Kaiyu
from: Xuexi zhi tian (Das süsse Lernen)
Beijing: Gongren, 2000
Audio production: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Aus dem Zyklus „Hommage an Du Fu

德文



Dies ist ein anderes China.
Wozu existiert es?
Niemand antwortet, auch nicht
mehr mit einem Echo.
Dies ist ein anderes China.

Dasselbe, drei Generationen unter einem Dach,
reduziertes Privatleben
kommt Schauspielerei gleich; die nächste Generation
wird von der Grausamkeit der Norm herausgeformt,
Dösen heisst, Mutter
und Vater gegenüber Dankbarkeit empfinden und sich gleichzeitig
in der Fertigkeit üben, zu seinem Vergnügen zu kommen, aber so wie ein Schulbuch
eine laute Tirade des Lehrers wiederholt;
ach, dasselbe, Mensch und Ochse
ziehen in den Feldern Pflug und Egge,
als hiesse Leben Dulden;

dies ist ein anderes China.
  Chinesisch wird einzig um der Scham willen gesprochen,
nur dass, wenn uns wie Bier der Schaum
uralter Sprache überläuft, wir weder
Erniedrigung empfinden, noch dass es uns zu Ruhm gereicht.
Zahnpasta, Pfannkuchen, Neologismen,
Zitate und idiotische Titel von der Art
„Menschheitselite“ haben den Geschmack im Mund
verändert, wer wüsste,
ob das nicht Gou Jians List ist?

Die vertraute Stadt wird zu
einer anderen Stadt, identische
Häusergruppen, mit
kleinflächigen Narben (in die Flüsschen der Vorstädte
strömt das verdorbene Blut provisorischer Häfen),
in den Fernsehern aller Haushalte läuft eine Serie,
ein paar Menschen töten Menschen, ohne
Sinn für Gerechtigkeit aber mit Humor.
(Apropos „Menschlichkeit“, der Polizist meint,
es sei Zeit für ein Nickerchen.)
Ob nun die List die Hoffnungslosigkeit,
von der wir sprechen und die wir gewohnt sind, verneinen wird,
so liegen in den Ämtern die optimalen Gründe bereit,
damit Freude in den Tabellen herrscht.


Ach, in den grauen Strudeln
von Hebei, dem Yangzi und Shanghai –
Stromausfall, Heizungsstopp, Wassersperre –
habe ich den Aufenthalt der Unsterblichen ausgemacht,
voller Verachtung und Respekt war ich wie verhext,
ich habe einen anderen Menschen gesehen.
Das flammende Rot der Strassen züngelte an ihm,
fleischliches Reisig bezeugte mit aller Kraft:
dies ist ein anderes China.
Zur Not könnte es als Relikt von „China“ gelten.
Aber auf den Gemüsemärkten, vor den Zeitungsaushängen und an anderen
zweitrangigen Schauplätzen verbindet – wie ein Wunder –
der Glaube ans Leben
die Untertanen zweier China;
auf der einen Seite machen Männer die Näharbeiten.

Eure Tagebücher lese ich nicht
und prangere eure Nöte an,
(Blumen züchten, Unsinn reden)
die vom Unrecht jener Überlebenden angeklagte Anmut
bildete einen betörenden Richtspruch,
„Satzbau, kraftvoller Stil“,
nichts als Schlamm. Ich verabscheue
euer erfundenes China, ein schmutziges
mit Bummelzügen zusammengeflicktes Land,
das sich vor dem Spiegel sein Gesicht verwüstet, jeder
fühlt sich bedroht, im Einklang mit der Belohnung,
(der Zug ist eingefahren)

Die von Ferngläsern auf Bergen und Hausdächern
vergrösserten Ausschnitte des Leids
machen mich hitziger als du – auf der Strasse
quengle ich vor einem alten Mann: Gib uns,
was du uns angeblich schon gegeben hast!
Geben? Einfach geben. Die alten Köpfe
und die alte Wirklichkeit, ohne
Kompromisse, keine Ausflüchte.
Womit ich konfrontiert bin, ist zugleich was mir fehlt,
Staat, Bestimmung, irgendein Tag
und die Fähigkeit zur Freiheit.

Der Spatzen Abenddämmerungstheorien können aufhören!
Die Philosophie vom schwebenden Dinosaurier
muss dem Chinesen der neunziger Jahre  
verzeihen, er kann nicht das Schweigen anhimmeln.
Übersetzen gleicht einem Nesselfieber.
Schielende Augen sind angemessen,
angemessen und dazu wachsam. O, hin- und hergerissen
zwischen Gram und Verwirrung, auf dem schlammigen Boden
vor der Tür sitzend: Kinder
gehen lärmend vorüber; die spitzen Pfiffe des Schicksals
kontrollieren das Wachstum. Vor dem Schlafen
wird die „Menschliche Komödie“ gelesen.

Dies ist ein anderes China.
Nur um der Existenz willen.
Nicht bürokratisch, sondern anti-bürokratisch.
Unser Leben duckt sich
wie wir selbst, aber unser
Ziel ist nicht das Leid, auch nicht
sich deswegen zu verbeugen, vor sich hin
murmelnd: „Und ... du?“


August 1995

_________________

Du Fu (712–770) lebte in der Tang-Zeit (618–907), während der die klassische chinesische Lyrik ihre Hochblüte erlebte. Er gilt allgemein als der grösste chinesische Dichter, dem es wie keinem anderen gelang, in seinen Gedichten persönliche Erlebnisse und Empfindungen mit sozialem und politischem Verantwortungsbewusstsein zu verbinden. 

Die List des Gou Jian ist die sprichwörtliche Bezeichnung für die Strategie, den Feind durch Unterwürfigkeit in Sicherheit zu wiegen, um später Rache zu nehmen. 

Hebei ist der Name jener nordchinesischen Provinz, in deren Gebiet sich Peking befindet.

© Aus dem Chinesischen von Raffael Keller

人民银行 / Renmin yinhang

中文 | XIAO Kaiyu

陆家嘴的楼群在傍晚的灰雾中,
垂下昂贵的头颅。
人民银行的椅形大厅
有麻脸警卫禁止我们这些人进入。
我们不是银行家和银行家的亲戚,
我们不是这座银行要算计的人物。
我们就是人民,男人和女人,
莫名其妙但是喜气一身。

银行的母亲竭力端坐,
老而权势,吞咽着串串数字。
哦,这些数字一惊一诧,
多半是黄连的苦味,
少许是可卡因的飞黄腾达的幻觉。
它们过多地来自乘法,
它们野蛮而心虚地堆积,
朝着一次友好的、彻底的腹泻。

那些害怕人民的数目的人
登上了讲台,并从会议去了银行。
我曾声称我是个无产阶级诗人,
却酷爱到外滩和陆家嘴转悠。
这个谜语就像高压电通过椅子
征服相似的神经网络,战利品
  就是后来的沉默。
少于人民又多于人民。

© Xiao Kaiyu
from: Xuexi zhi tian (Das süsse Lernen)
Beijing: Gongren, 2000
Audio production: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Volksbank

德文

Die Hochhäuser von Lujiazui lassen im grauen Abendnebel
ihre werten Häupter hängen.
Vor der stuhlförmigen Halle der Volksbank
stehen pockennarbige Wächter, die unsereins den Zugang verwehren.
Wir sind keine Bankiers oder Verwandte von Bankiers,
wir sind nicht die Personen, mit denen diese Bank rechnet.
Wir sind bloss das Volk, Männer und Frauen,
unergründlich aber von Freude durchdrungen.

Die Mutter der Banken sitzt mit aller Kraft aufrecht,
alt und mächtig, Zahlenreihen verschlingend.
O, wie schreckhaft diese Zahlen sind,
die Mehrzahl schmeckt bitter nach chinesischer Medizin,
ein geringer Teil erzeugt den Kokainrausch eines meteorhaften Aufstiegs.
Zuviele sind das Produkt von Multiplikationen,
sie häufen sich unzivilisiert und kleinlaut,
in Erwartung einer wohlmeinenden, gründlichen Diarrhöe.

Jene Menschen, die die Zahl des Volkes fürchten,
haben die Rednertribüne bestiegen und sind vom Plenum in die Bank gegangen.
Einst nannte ich mich einen proletarischen Dichter,
und doch zog es mich unwiderstehlich zum Bund und nach Lujiazui.
Dieses Rätsel fliesst wie Hochspannungsstrom durch den Stuhl
und erobert ein ähnlich geartetes Nervennetz, die Kriegsbeute
ist das Schweigen danach.
Weniger als das Volk und mehr als das Volk.


20. 1. 1997

Der Bund (anglo-indisch: „Kaimauer“): Shanghais alte Uferpromenade mit repräsentativen Bauten im klassizistischen Stil aus der Zeit der Kolonialmächte.
Lujiazui: Das in den neunziger Jahren gegenüber dem Bund aus dem Boden 

© Aus dem Chinesischen von Raffael Keller

北站 / Bei zhan

中文 | XIAO Kaiyu

我感到我是一群人。
在老北站的天桥上,我身体里
有人开始争吵和议论,七嘴八舌。
我抽着烟,打量着火车站的废墟,
我想叫喊,嗓子里火辣辣的。

我感到我是一群人。
走在废弃的铁道上,踢着铁轨的卷锈,
哦,身体里拥挤不堪,好像有人上车,
有人下车。一辆火车迎面开来,
另一辆从我的身体里呼啸而出。

我感到我是一群人。
我走进一个空旷的房间,翻过一排栏杆,
在昔日的剪票口,突然,我的身体里
空荡荡的。哦,这个候车厅里没有旅客了,
站着和坐着的都是模糊的影子。

我感到我是一群人。
在附近的弄堂里,在烟摊上,在公用电话旁,
他们像汗珠一样出来。他们蹲着,跳着,
堵在我的前面。他们戴着手表,穿着花格衬衣,
提着沉甸甸的箱子像是拿着气球。

我感到我是一群人。
在面店吃面的时侯他们就在我的面前
围桌而坐。他们尖脸和方脸,哈哈大笑,他们有一点儿会计的
假正经。但是我饿极了。他们哼着旧电影的插曲,
跨入我的碗里。

我感到我是一群人。
但是他们聚成了一堆恐惧。我上公交车,
车就摇晃。进一个酒吧,里面停电。我只好步行
去虹口,外滩,广场,绕道回家。
我感到我的脚里有另外一双脚。

            
1997.6.10.

© Xiao Kaiyu
from: Xuexi zhi tian (Das süsse Lernen)
Beijing: Gongren, 2000
Audio production: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Nordbahnhof

德文

Ich habe das Gefühl, eine Horde von Menschen zu sein.
Auf der Fussgängerüberführung des alten Nordbahnhofs erhebt sich in meinem Körper
ein Stimmengewirr sich streitender und diskutierender Menschen.
Rauchend betrachte ich die Bahnhofsruinen,
ich möchte schreien, in meiner Kehle brennt es wie Feuer.

Ich habe das Gefühl, eine Horde von Menschen zu sein.
In den gekräuselten Rost der Schienen tretend gehe ich über die verlassenen Geleise.
Ach, in meinem Körper herrscht ein unerträgliches Gedränge, wie von ein- und
aussteigenden Menschen. Ein Zug kommt auf mich zu,
ein anderer fährt mit einem Pfiff aus meinem Körper.

Ich habe das Gefühl, eine Horde von Menschen zu sein.
Ich betrete eine grosse Halle, klettere über eine Reihe von Geländern,
an der einstigen Kontrollschranke wird es in meinem Körper plötzlich
ganz leer. Ach, in diesem Wartesaal sind keine Reisenden mehr,
nur noch verschwommene Schatten stehen und sitzen herum.

Ich habe das Gefühl, eine Horde von Menschen zu sein.
In den angrenzenden Gassen, auf den Zigarettenständen, neben den öffentlichen Telefonen
quellen sie wie Schweissperlen hervor. Sie hocken sich hin, springen umher,
versperren mir den Weg. Sie tragen Armbanduhren, bunt karierte Hemden
und schwere Koffer als wären es Luftballons.

Ich habe das Gefühl, eine Horde von Menschen zu sein.
Während ich in einer Nudelbude Nudeln esse, setzen sie sich mir gegenüber
um den Tisch. Schmale und breite Gesichter, die lauthals lachen, und etwas von der
     Scheinheiligkeit
eines Buchhalters haben. Aber ich bin sehr hungrig. Lieder aus alten Filmen summend
machen sie einen Schritt in meine Nudelschale.

Ich habe das Gefühl, eine Horde von Menschen zu sein.
Doch sie ballten sich zu einem Haufen des Grauens. Ich steige in einen Bus,
der sogleich zu schwanken beginnt, betrete eine Bar, drinnen ist Stromausfall. Mir bleibt
    nichts anderes übrig, als zu Fuss
nach Hongkou, zum Bund, zum grossen Platz, auf Umwegen nach Hause zu gehen.
Ich habe das Gefühl, dass in meinen Füssen noch ein anderes Paar Füsse steckt.  
 

10. 6. 1997

Hongkou: Das Viertel der ehemaligen japanischen Konzession im nördlichen Shanghai.
Der Bund (anglo-indisch: „Kaimauer“): Shanghais alte Uferpromenade mit repräsentativen Bauten im klassizistischen Stil aus der Zeit der Kolonialmächte.

© Aus dem Chinesischen von Raffael Keller

在公园里 / Zai gongyuan li

中文 | Xiao Kaiyu

今天,如愿以偿,下午四点,
靠在中山公园的长椅上,我深深地
睡了一觉。醒来感到若有所失。

并不是从那些打木兰拳的女人,
和那些踢足球的孩子身上,而是从我,
从我在草坪边睡觉的那个惬意的间歇,

一些东西消失了!我从孕妇的肚子,
击球声,蝉声,和飞过公园上空的飞机的
嗡响中听到越来越多的间隙。

我曾经认为,天空就是银行
会失去它的财富,它的风暴,它的
空洞;但我,没有什么可供丧失。

我所有过的,在我看见的时侯,
就不属于我。我所有过的,在我说话时,
就已经消失;没有形状,没有质量。

我甚至知道吹乱葬礼上哭泣的亲人的衣服的
并不是死者的呼吸,
                和歉意。噢,不是。

(09/03/97)

© Xiao Kaiyu
from: Xuexi zhi tian (Das süsse Lernen)
Beijing: Gongren, 2000
Audio production: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Im Park

德文

Heute ging ein Wunsch in Erfüllung, nachmittags um vier,
auf einer Bank im Zhongshan-Park, fiel ich
in tiefen Schlaf. Als ich erwachte, war mir, als ob ich etwas verloren hätte.

Doch nicht von den Frauen, die Mulanquan übten,
und von den Fussball spielenden Kindern, sondern von mir,
von der beglückenden Pause meines Schlafes neben dem Rasen

war etwas verschwunden! Aus den Bäuchen der Schwangeren,
den Ballschlägen, den Stimmen der Zikaden, dem Rauschen der Flugzeuge,
die über den Park hinwegflogen, hörte ich immer mehr Zwischenräume heraus.

Früher dachte ich, der Himmel wäre eine Bank,
und könne seine Reichtümer, seine Stürme, seine
Leere verlieren; ich aber besässe nichts, das ich dem Verlust anheim geben könnte.

Alles, was ich hatte, gehört nicht mehr mir,
sobald ich es erblickt habe. Alles, was ich hatte, ist schon verschwunden,
zum Zeitpunkt wo ich spreche; gestaltlos, eigenschaftslos.

Ich weiss sogar: Was während der Totenfeier die Kleider der weinenden Angehörigen flattern
  lässt,
ist nicht etwa des Verstorbenen Atem,        
                                                            und Bedauern. Oh, nein.
                               

9. 3. 1997

Mulanquan (wörtl.: „Magnolien-Faust“): Eine Art Fächertanz mit Elementen des Taijiquan, der sich besonders bei Shanghaierinnen grosser Beliebtheit erfreut.

Aus dem Chinesischen von Raffael Keller

星期六晚上 / Xingqiliu wanshang

中文 | Xiao Kaiyu

匆匆进饭馆,要了碗面条。
两分钟吃完,显得很忙,对地板上
蹲着的黑猫也没有在意,它一直
巴结地叫着。小店里就两个人,
我和店家。他歪站在柜台边
冲着灭蝇器直笑,半冷淡地
应付我的不耐烦,好像赞同
这个晚上的枯燥。他认真地找零时,
我感到有事情可做的确重要。

所以到了街上,买份晚报,
(没新闻)车一停下,就上去了。
公共汽车的冷气开得过分,
我猛地一抖,赶紧把背靠在椅子上。
车里布满塑料、木渣和油漆的
怪味。车上没几个人,下雨,
谁还要出门呢?如果不是回家,
不是一个不可靠的念头驱使,
谁愿意花四张车票,垂着脑袋,
几乎睡着了穿过南京路呢?

一小时,一觉醒来,我赶紧
下车。“有点儿糟糕!”身后
一个人说。他专心于擦眼镜
坐过了站。我回头瞄了一眼,
公交车摇摇晃晃,驶入那雨丝
夜色和霓虹灯混合的昏暗中。
我知道,银行门口的小伙子
就是我要见的人。他短颈,
矮个,自称是个强盗,当然,
他已尽量地挖掘他的相貌。

我们在走进快餐店之前
就把几句话讲完了。要了冷饮
靠窗坐下,我们谈起相关的
几个当事人。他们的痛苦
在几个大学之间奔走。而且,
他们也习惯于轻松地嘲笑,
嘲笑自己的器官,迫不得已,
和各种计划的无聊。过一会儿,
他又斜眼看看窗街,困难地
与他脑中的那些街市比较。

他顺便提起他母亲的葬礼,
很多亲戚,很多鞭炮,很多
不认识的小孩,但很少时侯
亲人们围着遗像交换悲哀。
他认为她的死结束了一场争吵。
我终于没有弄清是谁和谁,
决定把药物放进面包,她吃了
一个月,然后她最后地微笑。
我们恰当地沉默了一小会儿
看看已经把时间拖得够长,
就站起来告别:“下次吧!”

  一到街上,他就消失了。
时间还不晚,回家前不妨
逛逛街。又是那个不可靠的
坏念头,拽紧我。心儿直跳。
抽了只烟。甚至去电影院看了
节目表,片子好像都看过。一部
讲鸦片,一部离婚,另一部
讲我们中的一个战胜了感情。
我十岁得到的答案现在依然在
调侃我的疑问:我属于我们。

因此,日子美好的标志就是
散步、洗澡、使用人称的
单数时慢吞吞地胡说八道。什么
意思呢?几条街,几个乐队,
演奏国歌和军乐。商店敞开的
大门里涌出一股冷气。商店里
两个姑娘在挑选胸衣。此刻,
我想回家了。否则在高架桥下,
跟着气功师,就得学习用脚
抓背、打拳。反而用手走路。

职员们打着哈欠,提着电脑,
钻进出租车;高低楼房的灯光
开始熄灭。从弄堂里的酒吧
传来爵士乐的喝彩声。毕竟,
在这样的睡觉的时刻这么吵闹,
似乎一周的生活终于到了高潮。
其实很快,车到站了。现在,
夜深但夜色灰白,不是漆黑。
回到学校,我甚至看见路边
树林里,两个孩子走着拥抱。


(1997.6)

© Xiao Kaiyu
from: Xuexi zhi tian (Das süsse Lernen)
Beijing: Gongren, 2000
Audio production: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Samstagabend

德文

Schnell in ein Restaurant, eine Schale Nudeln bestellt.
In zwei Minuten gegessen, sehr beschäftigt wirkend, nicht mal
die schwarze Katze beachtet, die am Boden hockt und dauernd
schmeichlerisch miaut. Im Lokal sind nur zwei Leute,
der Wirt und ich. Schief an die Theke gelehnt
lächelt er unentwegt den Fliegentöter an, entledigt sich
mehr oder weniger teilnahmslos meiner Ungeduld, offenbar der Eintönigkeit
dieses Abends beipflichtend. Während er sorgfältig das Wechselgeld herausgibt,
spüre ich, wie wichtig es ist, etwas zu tun zu haben.

Also hinaus auf die Strasse, eine Abendzeitung gekauft,
(keine Neuigkeiten) und in den nächsten Bus hinein.
Die Klimaanlagen in den öffentlichen Bussen sind zu stark eingestellt,
ich schaudere, presse mich rasch in einen Sitz.
Der Bus ist von seltsamen Gerüchen nach Plastik,
Sägemehl und Farbe erfüllt. Im Bus sind kaum Leute, es regnet,
wer wird da noch einen Fuss vor die Tür setzen? Es sei denn, man fährt nach Hause,
oder wird von einem zweifelhaften Gedanken getrieben,
wer sonst wäre bereit, vier Fahrkarten zu vergeuden, nur um mit hängendem Kopf
im Halbschlaf durch die Nanjing-lu zu fahren?

Nach einer Weile, aus dem Dämmer erwacht, steige ich
hastig aus. „Zu dumm!“ sagt jemand
hinter mir. Ins Putzen seiner Brillengläser vertieft
hat er die Haltestelle verpasst. Ich werfe einen Blick zurück,
schwankend fährt der Bus ins verschwimmende Dunkel
aus Regenfäden, Nacht und Neonlichtern hinein.
Nun weiss ich, der junge Kerl am Eingang der Bank
ist der Mann, den ich sehen will. Er ist kurzhalsig,
klein, und nennt sich selbst einen Räuber, kein Wunder,
er hat schon alles aus seinem Aussehen herausgeholt.

Noch vor dem Betreten des Schnell-Restaurants
haben wir ein paar Sätze zu Ende gesagt. Wir holen uns kalte Getränke,
setzen uns ans Fenster und beginnen über ein paar
uns bekannte Beteiligte zu reden. Ihr Leid
eilt zwischen ein paar Universitäten hin und her. Ausserdem
haben sie sich auch ans Spötteln gewöhnt,
spötteln über ihre eigenen Organe, sie können nicht anders,
und über die Langeweile von allerlei Plänen. Wenig später
äugt er wieder auf die Schaufensterstrasse, mühsam
mit den Geschäftsstrassen in seinem Kopf Vergleiche anstellend.

Nebenbei erwähnt er das Begräbnis seiner Mutter,
lauter Verwandte, lauter Knallfrösche, lauter
unbekannte kleine Kinder, aber nur ganz kurz standen
die Angehörigen um das Porträt der Verstorbenen und bekundeten ihre Trauer.
Er meint, ihr Tod habe einen Streit beendet.
Mir wird nicht klar, wer mit wem
beschloss die Arznei ins Brot zu tun, sie ass davon
einen Monat, dann lächelte sie ein letztes Mal.
Als wir für einen Moment in angemessenes Schweigen verfallen,   
merken wir, dass wir die Zeit schon ziemlich in die Länge gezogen haben,
stehen auf und verabschieden uns: „Bis zum nächsten Mal!“

     Kaum auf der Strasse, ist er verschwunden.
Es ist noch früh, vor dem Heimweg kann es nicht schaden,
noch ein bisschen durch die Strassen zu bummeln. Wieder packt mich  
dieser unselige zweifelhafte Gedanke. Das Herz hämmert.
Eine Zigarette geraucht. Sogar zum Kino gegangen und
das Programm angeschaut, offenbar alles schon gesehen. Ein Film
über Opium, einer über Scheidung, ein dritter
über einen von uns, der seine Gefühle besiegte.
Die Lösung, die ich mit zehn Jahren bekam,
erörtert immer noch meine Frage: Ich gehöre zu uns.

Folglich sind die Kennzeichen glücklicher Tage
spazieren gehen, baden und in der 1. bis 3. Person
Singular bedächtig das Blaue vom Himmel herunterreden. Was
soll das bedeuten? Ein paar Strassen, ein paar Musikkappellen,
die die Nationalhymne und Militärmusik spielen. In den weit geöffneten
Eingängen der Kaufhäuser flutet ein kalter Lufthauch. Im Kaufhaus
sind zwei Mädchen dabei, sich BH‘s auszusuchen. In dem Augenblick
möchte ich nach Hause. Andernfalls müsste ich unter der Hochstrasse
bei einem Qigong-Meister lernen, mit den Füssen den Rücken zu umklammern,     
Faustkampf üben, und am Ende gar auf den Händen durch die Strassen gehen.

Gähnend, mit ihren Computern, kriechen die Angestellten
in die Taxis; in den ungleich hohen Gebäuden
gehen die ersten Lichter aus. Aus den Bars in den Gassen
dringt Beifall von Jazzmusik. Immerhin,
zu dieser Schlafenszeit ein solcher Lärm,
als wäre das Leben einer Woche endlich auf dem Höhepunkt angelangt.
Doch schon hat der Bus die Haltestelle erreicht. Jetzt
ist die Nacht tief aber aschgrau, nicht pechschwarz.
Zurück auf dem Campus, sehe ich unter den Bäumen
am Wegrand sogar zwei Kinder, die umschlungen dahingehen.
 

4. 6. 1997

Die Nanjing-lu ist die wichtigste Geschäftsstrasse Shanghais. Die dort verkehrenden klimatisierten Busse sind viermal so teuer wie die normalen einfachen Busse.

© Aus dem Chinesischen von Raffael Keller

雨中作 / Yu zhong zuo

中文 | Xiao Kaiyu

有许多奇迹我们看见。
月亮和迅逝的闪电,
照亮江中鱼和藻类。
岸上,鸟儿落下飞起,
搬运细木和泥土。
新鲜的空气,
生命和死亡。
围绕着我们。

© Xiao Kaiyu
from: Dongwuyuan de kuangxi (Wilde Freuden im Zoo)
Beijing: Gaige , 1997
Audio production: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Im Regen geschrieben

德文

Zahllos die Wunder, die wir schauen.
Der Mond und zuckende Blitze
erhellen Fische und Algen im Fluss.
Am Ufer fliegen Vögel auf und nieder,  
tragen Lehm und Zweige fort.
Die frische Luft,
das Leben und der Tod.
Um uns.

Aus dem Chinesischen von Raffael Keller
© Raffael Keller


- - - alternative Übersetzung - - -


Im Regen geschrieben
 
Wir haben viele Wunder gesehen.
Den Mond und den Blitz der erlischt
auf dem Fluss erhellt er die Fische und Algen.
Am Ufer, da landen die Vögel und fliegen
und tragen das kostbare Holz und den Lehm.
Die frische Luft,
den Tod und das Leben
in unserer Umgebung.
 

Übersetzt von Martin Winter, April 2010
© Martin Winter

© Aus dem Chinesischen von Raffael Keller bzw. Martin Winter

乌鸦 / Wuya

中文 | XIAO Kaiyu

有一天,在小学课堂,
我学会了这个名词。
那天晚上我看见它的黑色翅膀
从天空分离,像一个降落伞
带着飞翔的感觉落下,
罩住妹妹和我的身体。
唉,妹妹从院子里的核桃树下
迟疑地走进她的卧房,
走进一只巨大乌鸦的嘴里。
后来在异乡,在旧建筑的废墟
在我心脏的墙壁我看见鸦群
蓦然起飞如同死亡的预感
如同乌云一团,就想起妹妹。
她和一个男人结了婚,
在乡场惟一一条短街,
一个杂货铺里。

                                               
(1997.1.19)

© Xiao Kaiyu
from: Xuexi zhi tian (Das süsse Lernen)
Beijing: Gongren, 2000
Audio production: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Der Rabe

德文

Eines hellen Tages, im Klassenzimmer,
lernte ich dieses Substantiv.
Am Abend sah ich seine schwarzen Flügel
sich vom Himmel lösen und wie ein Fallschirm
kreisend herabschweben,
meinen und der kleinen Schwester Körper zudeckend.
Ach, Schwesterchen kam unter dem Walnussbaum im Hof hervor
und ging zögernd in ihr Schlafzimmer,
verschwand im Schnabel eines riesigen Raben.
Später in der Fremde, in den Ruinen alter Gebäude,
wenn ich auf der Wand meines Herzens einen Schwarm von Raben
jäh auffliegen sah wie eine Vorahnung des Todes,
wie schwarze Wolkentürme, musste ich an meine Schwester denken.
Sie hat einen Mann geheiratet,
in der einzigen kleinen Strasse des Ortes,
in einem Gemischtwarenladen.


19. 1. 1997

Aus dem Chinesischen von Raffael Keller



© Raffael Keller





Röderhof

中文 | Xiao Kaiyu

夜愈深,山路愈陡;
开车犹如驾驶风。
夜行人都赶在寂静的前头,
粗暴地穿过村子。

我们被这些幽深的间隙切开,
安插在梦寐中。
树漏月亮;盥洗室里的
锅炉一停,我就睡着。

二○○○年一月二十九日

© Xiao Kaiyu
from: unveröffentlichtem Manuskript
Audio production: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Röderhof

德文

Je tiefer die Nacht, um so steiler die Bergstrasse;
Autofahren gleicht dem Steuern des Windes.
Wer nachts unterwegs ist, eilt der Stille voran,
durchquert brutal das Dorf.

Diese Intervalle tiefer Ruhe zerteilen uns,
betten uns in die Träume ein.
Durch die Bäume sickert Mondlicht; sobald im Waschraum
der Heizkessel innehält, schlafe ich ein.


29. 1. 2000

Aus dem Chinesischen von Raffael Keller



© Raffael Keller





Pankow

中文 | Xiao Kaiyu

汽车碾着落叶停在环街另一端,
那里几幢房子待租,灰暗的花园里
新立的木牌亮着电话号码;旁边就是电车
缓缓滑向冬季深处,铁轨弯入郊区。

小伙子拴狗在旗杆上。在轻响的
漂亮的旗帜下,大使们曾经相互行礼。
接传真,发照会,为远方的祖国
而穿衣、讲话、喝酒,而匆匆退席。

连垃圾桶都倾诉着变化。连旧电脑
都无法启动旧程序。沿黑塞街去墓地
会遇见一个精神病人,唱歌拯救他的记忆。

可是在文学宫,所有声音确实来自模仿。
某个地方,某个时间,某个稍稍年轻的人
从痛苦发出呼吁,而非召唤痛苦的情绪。


(25/11/97)

© Xiao Kaiyu
from: Xuexi zhi tian (Das süsse Lernen)
Beijing: Gongren, 2000
Audio production: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Pankow

德文

Die abgefallenen Blätter plattwalzend hält ein Auto am anderen Ende des Rings.
Dort warten ein paar Häuser auf ihre Vermietung. In fahlen Gärten
prangen Telefonnummern auf neu errichteten Holzschildern; gleich daneben
gleitet die Strassenbahn langsam in die Tiefen des Winters, die Schienen biegen in die Vorstadt ein.

Ein junger Mann bindet seinen Hund an einen Fahnenmast. Unter prächtigen
leise flatternden Flaggen tauschten einst Botschafter Begrüssungen aus.
Sie empfingen Bildtelegramme, erliessen Noten, für ihre fernen Heimatländer
kleideten sie sich ein, hielten Reden, tranken Wein und empfahlen sich eilig.

Selbst aus den Mülltonnen quillt die Veränderung. Selbst die alten Computer
sind nicht in der Lage, das alte Programm wieder in Gang zu setzen. Auf dem Weg durch die Hesse-Strasse zum Friedhof
kann man einem Verrückten begegnen, Gesang erlöst seine Erinnerung.

Aber im Literaturhaus entspringt jeder Laut in Wirklichkeit der Imitation.
An irgendeinem Ort, zu irgendeiner Zeit, erhob irgendein Mensch, um etwas jünger
aus dem Leiden seine Stimme, und rief nicht eine Stimmung des Leidens herbei.


25. 11. 1997

Aus dem Chinesischen von Raffael Keller



© Raffael Keller





自昨天 / Zi zuotian

中文 | Xiao Kaiyu

那不是第一次,在川北乡野,
一个出口出现在一棵树上。
半里路外,小镇街头,又出现
在一双眼睛里。两处的灰色,
转而成了运气,烟子乱吐火苗。
的确是长梯子,的确过于陡峭。
很快,当天傍晚,一切紧起来的
——那么多,那么多——解放了。

十几年后,更像是一夜之后,
每一棵树,每一张嘴巴,
机器地蹲在春天:乡野和街头。
大喊大叫。真的是一夜之后,
真的要停止这一片此呼彼应。
这一片真的粘乎乎的,和什么
都够得上。孤独即纠在一起,
亲昵;寂寞近乎最好的一次。

似乎是:时间收起了一些什么。
孔夫子搬到了易北河边,
和波士顿;电话公司一再降价;
e-mail免费;好些人迷上滑翔机。
一回头,树荫、街角和门后的暗处
忽然看得见了:那在过去赶路的人
还在那里赶路;等着接吻的人
还在那里等;下一刻钟接吻。

        幸而低头时看见了昨天,
十几年前,一个心绞痛的少年走极端
      之前,对着镜子得意起来。
九八年十一月十八日

© Xiao Kaiyu
from: unveröffentlichtem Manuskript
Audio production: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Seit gestern

德文

Es war nicht das erste Mal, dass auf den heimischen Feldern des nördlichen Sichuan
ein Ausgang sich zeigte auf einem Baum.
Eine halbe Wegmeile weiter, auf den Strassen der kleinen Stadt, zeigte er sich erneut
in einem Augenpaar. Das Grau beider Orte
verwandelte sich in Glück, Russ spuckte Flammen.
Wahrlich eine lange Leiter, wahrlich viel zu steil.
Sehr schnell, am selben Abend, hatte sich alles Festgezurrte
– so vieles, so vieles – aufgelöst.

Zehn und mehr Jahre später, nach einer einzigen Nacht wie es schien
kauerte jeder Baum, jeder Mund
mechanisch im Frühling: Heimische Felder und Strassen.
Lautes Geschrei. Wahrhaftig nach einer Nacht,
wahrhaftig muss all dies Rufen und Antworten aufhören.
All dies wahrhaft Klebrig-zähe kann sich mit allem
messen. Das Alleinsein verstrickt sich sogleich mit hinein,
tut vertraut; die Einsamkeit schmiegt sich an das beste Mal.

Beinahe so: Die Zeit hat mit manchem aufgeräumt.
Konfuzius ist an die Elbe gezogen,
und nach Boston; die Telefonfirmen senken unentwegt die Preise;
e-mail umsonst; etliche Menschen haben sich in Segelflugzeuge vernarrt.
Ein Blick zurück, Baumschatten, Strassenecken und das Dunkel hinter der Tür
sind plötzlich sichtbar geworden: Der in der Vergangenheit rastlos unterwegs war
ist immer noch dort unterwegs; die darauf warteten, sich zu küssen
warten immer noch dort; küssen sich in der nächsten Viertelstunde.

Zum Glück den Kopf gesenkt und dabei das Gestern gesehen,
vor zehn und mehr Jahren, bevor ein junger Mensch mit schmerzgeschnürtem Herz
bis zum Äussersten ging, erfüllte ihn vor dem Spiegel Zufriedenheit.


18. 1. 1998

Aus dem Chinesischen von Raffael Keller



© Raffael Keller