Ulla Hahn
Mein Vater
Mein Vater
Wer ist das?
fragen meine Freunde
und deuten auf das Foto
des Mannes über meinem Schreibtisch
zwischen Salvador Allende
und Angela Davis.
Ich sage:
Mein Vater. Tot.
Dann fragt niemand weiter.
Wer ist das?
frage ich den Mann,
der nicht einmal
für das Passfoto lächelt,
der an mir vorbeischaut
wie beim Grüßen
an Menschen,
die er nicht mochte.
Bauernkind, eines von zwölf,
und mit elf von der Schule;
hatte ausgelernt,
mit geducktem Kopf nach
oben zu sehen.
Ist krumm geworden
als Arbeiter an der Maschine
und als Soldat
verführt gegen die Roten.
Nachher noch einmal:
geglaubt, nicht begriffen.
Aber weitergemacht.
Als Arbeiter an der Maschine
als Vater in der Familie
und sonntags in die Kirche
wegen der Frau
und der Leute im Dorf.
Den hab ich gehasst.
Abends, wenn er aus der Fabrik
nach Hause kam,
schrie ich ihm entgegen
Vokabeln, Latein, Englisch.
Am Tisch bei Professors,
als mir der Tee
aus zitternden Händen
auf die Knie tropfte,
hab ich Witze gestammelt
über Tatzen,
die nach Maschinenöl stinken.
Hab das Glauben verlernt mit Mühe.
Hab begreifen gelernt und begriffen:
Den will ich lieben
bis in den Tod
all derer, die schuld sind
an seinem Leben
und meinem Hass.
Manchmal
da lag schon die Decke
auf seinen Knien
im Rollstuhl,
nahm er meine Hand,
hat sie abgemessen
mit Fingern und Blicken
und mich gefragt,
wie ich sie damit machen will,
die neue Welt.
Mit Dir,
hab ich gesagt
und meine Faust
geballt in der seinen.
Da machten wir die Zeit
zu der unseren,
als ich ein Sechstel
der Erde ihm
rot auf den Tisch hinzählte
und er es stückweis
und bedächtig
für bare Münze
und für sich nahm.
Wer ist das?
fragen meine Freunde
und ich sag: Einer von uns.
Nur der Fotograf
hat vergessen,
dass er mich anschaut
und lacht.
(aus: Liebesgedichte, 1993)