Ulrich Zieger
[Lieber William Carlos Williams]
Lieber William Carlos Williams,
Heute am dritten oktober hat hier
der herbst eingesetzt
der himmel war dramatisch und als
gegen abend die sonne noch einmal
kurz durchbrach
legten sich ihre strahlen über die ebene
wie bei Altdorfer
wenn ich an den letzten herbst zurückdenke
dann hatte ich angst
angst den winter nicht zu überstehen
in diesem jahr bin ich auf eine
leicht depressive weise
gelassen – was mich beunruhigt
freunde brachten mir gestern
aus ihrem landhaus
eine kühltasche mit
die ich irgendwann im vergangenen jahr
dort vergessen hatte
(ich hatte an zwei söhne und ein zelt zu denken)
darin fanden sich: eine taschenlampe
Edgar Allan Poe’s „Le Scarabée d’or“
in der übertragung von Charles Baudelaire
André Schwarz-Bart „Die Mulattin Solitüde“
Charles Ferdinand Ramuz „Die Trennung der Rassen“
und Ihre gedichte
von denen ich als erstes „Morning“ las
ich weiss dass Sie in Leipzig waren
ich war diesen sommer in Magdeburg
und besuchte die figur des Hl. Mauritius
die um 1250 entstanden ist
– ich kenne aus dieser zeit keine so realistische
darstellung eines afrikaners –
noch Dürers „Rhinoceron“ ist nach beschreibungen
entstanden
ganz zu schweigen von elefanten und einhörnern
und Barlach 1929
nach meinem spaziergang
unter dramatischen wolken
las ich: „Young Woman at a Window“
Sie sitzt mit
tränen auf
ihrer wange
ihre wange auf
ihrer hand
das kind
in ihrem schoss
seine nase
gepresst
an die scheibe
– es ist herbst geworden