Armin Senser
Venezianische Teichoskopie
I
Hier, wo es selbst für Geister schwierig ist,
einander aus dem Weg zu gehen, endet
nicht die Zeit, sondern die Zeit, sie markiert
wie ein jedes Raubtier ihr Revier und
überläßt dem Meer das Verwischen (oder
der Feder das Vertuschen) ihrer sich
unablässig vollziehenden Spur, so daß
der Zug fast immer verspätet ankommt.
II
So gesehen ist nur das Meer endlos und
früher oder später kommt niemand drum
herum übers Wasser zu gehen, dabei greift –
wie so oft - die Perspektive dem Ereignis
unter die Arme, was Wundern kaum
schmeicheln wird. So altert der Schein – bis
auch deinem Körper das matte Licht eine
vorteilhafte Silhouette verspricht.
III
Die Palazzi stecken bis zum Hals in
der Vergangenheit, die, obwohl die
Zeit schon fortgeschritten ist,
unaufhörlich Selbstgespräche führt.
Einsamkeit wird da zum Fremdwort,
auch wenn das Laken deiner
marmornen Koje nichts als deine
Scham ihren Blicken entgegenhält.
VI
Im Seguso fährt der Lift jeden – nicht
nur Verliebte – Richtung Himmel, auch
sie halten spätestens im vierten, was
ihre Aussichten in keiner Weise trübt.
Die Wände halten dicht, nur die Zeit
verrät alle ihre Geheimnisse der
Wirklichkeit, die das Stubenmädchen
mit einem Kichern morgens wegwischt.
V
Minotaurisch schleppen sich himmlische
Engel in die nächste Kirche, um für
eine Ausweg zu bitten. Auch Flügel
nützen nichts, sie werden gestutzt,
hebt man ab. Was einen Pelz trägt,
hat es da leichter, es folgt einem Instinkt
und den Mäusen, die wissen, wie
man blinder Passagier spielt.
VI
Der Himmel ein düsterer Keller mit nur
einem Fenster, jemand hat das Licht brennen
lassen, damit Gedanken nach dem Rechten
sehen. Dann und wann peitscht Phaëton
die Pferde (hat er das nötig?) und die Hufe
dröhnen über den Wolkenasphalt, bis er sich,
mangels Fahrzeugbeherrschung,
irgendwo das Genick brechen wird.
VII
Abends streckt Helios am Horizont für
einen prae galileischen Moment die Zunge
heraus, wie gewöhnlich vor der völligen
Umnachtung. Man kann es ihm nicht
übelnehmen, bei seiner Sehschärfe entgeht
ihm kein Seitensprung, muß er zur Kenntnis
nehmen, was in besten Familien geschieht,
für den Frieden die Augen schließen.
VIII
Der Canal Grande, diese Schlange, hat
auch hier Folgen für die Erkenntnis –
entkommt man ihr wird einem leichter
ums Herz. Aber eher, als man Geld
verschwendet, entrichtet jeder seinen
Obolus, um in einem der Gästebücher,
vielleicht neben Stephen Spender, ein
wenig überschüssigen Ruhm zu ernten.