Heiner Müller
MÜLLER IM HESSISCHEN HOF
Im Hotelrestaurant die Unschuld der Reichen
Der gelassene Blick auf den Hunger der Welt
Mein Platz ist zwischen den Stühlen Mein Traum
Die faltige Kehle der Witwe vom Nebentisch
Aufzuschneiden mit dem Messer des Kellners
Der ihr den Lammrücken vorschneidet Ich
Werde auch diese Kehle nicht aufschneiden
Mein Leben lang werd ich nichts dergleichen tun
Ich bin nicht Jesus Der das Schwert bringt Ich
Träume von Schwertern Wissend länger als ich
Wird die Ausbeutung dauern an der ich teilhabe
Länger als ich der Hunger der mich ernährt
Und die Dichter ich weiß es lügen zu viel
Villon konnte das Maul noch aufreißen
Gegen Adel und Klerus er hatte kein Bett keinen Stuhl
Und kannte die Gefängnisse von innen
Brecht schickte Ruth Berlau nach Spanien und schrieb
In Dänemark DIE GEWEHRE DER FRAU CARRAR
Gorki während er zweispännig durch Moskau fuhr
Haßte die Armut WEIL SIE ERNIEDRIGT Warum
Nur die Armen Majakowski hatte sich schon
Mit dem Revolver zum Schweigen gebracht
Die Lügen der Dichter sind aufgebraucht
Vom Grauen des Jahrhunderts An den Schaltern der Weltbank
Riecht das getrocknete Blut wie kalte Schminke
Der Schrecken der Gewalt ist ihre Blindheit
Der schlafende Penner vor ESSO SNACK&SHOP
Widerlegt die Lyrik der Revolution
Ich fahre im Taxi vorbei Ich kann es mir
Leisten Benn hatte gut reden Er hat
Mit seinen Gedichten kein Geld verdient und wäre
Krepiert ohne Haut- und Geschlechtskrankheiten
In der Nacht im Hotel ist meine Bühne
Nicht mehr aufgeschlagen Ungereimt
Kommen die Texte die Sprache verweigert den Blankvers
Vor dem Spiegel zerbrechen die Masken Kein
Schauspieler nimmt mir den Text ab Ich bin das Drama
MÜLLER SIE SIND KEIN POETISCHER GEGENSTAND
SCHREIBEN SIE PROSA Meine Scham braucht mein Gedicht
Frankfurt, 3.10.1992