Marie Luise Kaschnitz
Der Leuchtturm
Wer weiß, ob diese Alten auf der Insel
Wirklich die richtigen waren, das Kind zu erziehen.
Ein Trinker, eine Schlampe. Sie gaben es her unter Tränen.
Da kam es aufs Festland, weit fort, hinter Zäune und Mauern
Zu anderen Kindern. Die nahmen es auf die hörner,
Das junge Freiwild. Höhnten sein Gebrechen,
Das Heimweh hieß, verschrieen seine Träume.
Wer weiß, ob aus diesen Kindern überkurz überlang
Nicht Freunde geworden wären. Aber nicht jeder
Nimmt sich zusammen, hält den Atem an.
Nicht jeder übersteht seine finsteren Weihen.
Der Knabe, unserer, hielt den Atem nicht an.
Er trank die Feindschaft der Welt, eine bittere Salzflut,
erbrach sie und floh. Schlief einmal draußen im Stadtwald
Unter klirrenden Zapfen, wurde zurückgebracht.
Kam ein zweites Mal weiter, erreichte die Straße meerwärts.
Fiel dort auf, weil er lief mit eingezogenen Fäusten
Und wehenden Haaren, wurde zurückgebracht.
Beim drittten Mal fand ihn kein lebendes Wesen mehr.
Nur der Finger des Leuchtturms, der strich über Düne und Hafen,
Ertastete zwei aufgerissene Augen,
Die hinüberstarrten zur Insel. Kam und ging
So lange, bis das feste Knabenfleisch
Geschmolzen war. Da liegt es unser Heimweh,
Von Vögeln ausgeweidet. Ein Skelett
Im schwarzen Hafer. Flugsand deckt es zu.