Anne Duden
Sphinx - Hinter Gittern
Sphinx - Hinter Gittern
Jeden Morgen tut sich die Stadt auf
und wird ein Schacht.
Eine riesige Mischmaschine
dreht er sich um sich selbst
den ganzen Tag.
Die Sphinx lag noch ausgestreckt im Bett.
Sie war ein Spätaufsteher.
Das aus dem Schacht aufsteigende Getöse drang
bis zu ihr.
Aber sie konnte es zuerst nicht entziffern.
Bis sie sich einmal über den Rand beugte und alles sah.
Der Schacht saugte Festes an und gab Körperloses ab
zu ungleichen Teilen.
In der Tiefe krachte und ächtzte es
brodelte und mahlte.
Hier wurden die Knochen zerstoßen
und in Flüssiggas umgesetzt.
Weiter oben die schon entsafteten Weichteile
deren Zerkleinern fast lautlos erfolgte.
Ganz oben wurde alles zentrifugal an den
Rand geschleudert
klebte dort als reglose Geschwindigkeit.
Sie wendete sich ab.
Das Schleifen Rauschen Tosen
blähte ihren Kopf auf.
Für Gedanken und Gefühle war es nun zu spät
geworden.
Von dem Tag an wurde sie vieldeutig
- ihr selbst war egal wer oder was sie war –
und lebte sie in einer Art Lattenverschlag
oder Versandkäfig für Zootiere.
Sie wurde noch einmal betreten
und dann nicht mehr.
Gebar Zwillinge.
Das eine Kind war schwarz, das andere weiß.
Aber nur dem schwarzen schenkte sie das Leben.
Und noch lange nach der Geburt
ließ sie immer wieder bereitwillig zu
wie der kleine dunkle Menschenkörper
sich von ihren Brüsten herabgleiten ließ
und nach einem leichten Stoß wie gegen Zitzen
mit dem Kopf gegen die Öffnung zwischen ihren
Beinen
in ihrem Innern für ein Weilchen verschwand.
Zum Umschlungenwerden von ihren Eingeweiden.
Die Sphinx erstarrte äußerlich bald zur vollkommenen
Ruhe.
Langsam hatte der Stein sich über ihr geschlossen.
In dem bläulichen Höhlen- oder Neonlicht
erfroren ihr die Innereien
und sackten unter ihr in eine bodenlose Kaltluft weg.
So dämmerte sie mit weitaufgerissenen Augen vor
sich hin.
Zeit lief nicht mehr ab.
Sie ruhte nun auf einer Hohlschiene.
Ihre Vorderpfoten waren Stümpfe
ihr Unterleib und Ihre Hinterläufe restlos weg-
gefressen
die Flügel ausgefranste schwärzliche Gerippe
nur noch vorläufig von der Schienenprothese gehalten.
Aber ihr Kopf. Aber ihr Gesicht.
Mit den breiten Backenknochen des Löwenschädels
und den doch wirklich menschlichen Lippen
dem einen blinden Auge
und dem anderen einzigen, das alles sah.
Man hatte ihren Gesichtsausdruck
mit Kanonen beschießen lassen.
Vor Urzeiten. Es zählte nicht mehr.
Das war gar nichts gegen die Ausrottung
ihrer Geschwister und anderen Verwandten.
Hydra Chimäre Drache Schlange Brut.
Sie selbst konnte schon lange nicht mehr
die Stätten des Westens
ZU DENEN DIE SONNE UND DIE TOTEN GEHEN
bewachen.
Hier im Dunkeln und unter dem Stein
vollkommen arbeitsunfähig.
Manchmal versandete sie.
Durch die Ritzen drang der Flugsand bis in ihr
Verlies.
Auch davor schloß sie die Augen nicht mehr
und die Häufigkeit der Luftspiegelungen nahm
deutlich zu.
Ständig zitterte etwas nach
flimmerte den Höhlenraum auf und ab.
Kurz vor Anbruch einer der unzähligen Ewigkeiten
warf eine Fata Morgana sie auf sich selbst zurück.
Es dauerte lange bis sie sich wiedererkannte.
Dieses andauernde Zittern, dieses Changieren.
Die Spiegelung wollte nicht zur Ruhe kommen
erzeugte einmal im sich Erheben Versteinerndes
einmal sich selber richtungslos in den Raum
lallende Bilder.
Nach dem endlos langen Starren
waren Innen und Außen für sie zusammengefallen
erkannte sie keine Grenze und keinen Horizont
mehr an
keine Lider keine Haut.
Waren Mauern nur noch Linien
die ein und dasselbe voneinander trennten.
Sie erblickte sich – nach so langer Zeit.
Die hochangesetzten breiten Backenknochen
die ungleichen Augen
den menschlichen Mund.
Den totenbleichen hochgeschreckten Kopf
Charlie Chaplins Buster Keatons Mephistos
den Binder die heruntergefallene venezianische
Halbmaske
den Affen mit abgerutschter Schutzbrille
diesen schwarzen Hohlmund in allen ihren Köpfen
diesen ausgeleiert stumpfen
nicht nachlassenden und gleichfalls schwarzen
Augenblick.
Und zwischen ihr und ihr – schwebend –
die aus den Höhlen gedrehten
versteinerten Augbälle.
Die Sonne ging unter
und vereint sahen ihre Schädel
AM ABENDHIMMEL BLÜHET EIN FRÜHLING AUF.
Die Wüsten leerten sich
der Sand lief ab
ihr Umfeld neigte sich zur Seite.
Sie riß die Steinlider auseinander
über ihrem völlig unbeweglich gewordenen Restleib
in ihrer Schädel-Sammlung.
Sie wollte plötzlich alles wahrnehmen
sich umdrehen
die Nüstern blähen
die Gerüche verfolgen.
Aber die Nackenstarre war zu einem ewigen
Korsett geworden
und der Schwund ihres Körpers ließ nur noch
Phantomwünsche zu.
Lange Wolkenleitern streckten sich in die Schräge
bis vor sie hin.
Ein ruhiges Feuer glühte aus dem Innern jeder
einzelnen Sprosse
während die Ränder schon aschig ergrauten.
Die Schiene war fest im Boden verankert.
Sie kam nie mehr los
obwohl die Sprossen aufwärts
zum Greifen nahe waren.
Hinter einer sich auffächernden Pappel
stand der Himmel nun senkrecht da
und aus einer Mitte heraus
genau hinter dem schwarzen Geäst
erblühte ein alle Luft durchspannender
oben weit und locker auseinanderfallender
rot durchglühter Ritterspornstrauß.
Bevor der Sand wieder einlief
und das nächste Jahrtausend oder ähnliches
gleichmäßig zu rieseln begann.