Konnichi no Yurishi-zu

© Kazuko Shiraishi
Extraído de: Kôyôsuru honoo no jûgonin no kyôdai Nihon rettô ni kyûsoku sureba
Tokyo: Sanrio , 1975
Produção de áudio: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Odysseus heute

Er wandte sich um und fand kein Gesicht
nicht sein eigenes
neugeborenes Gesicht  
ein Gesicht ist ein Land
aber sein Land war fremdgegangen mit einer finsteren Ideologie
das eigene Gesicht
das kein Gesicht mehr hat     und keine Lippen zum Küssen
läßt er zurück
und zieht davon

seine Heimat liegt unter einer Landkarte     die er nicht kennt
als Ausweis für das Land seiner Geburt
hat er nur die Zeichen aus dem Mutterschoß
er     ist unschlüssig     wie er sich nennen soll
er     verläßt sein Land
Odysseus     der keine Rückkehr kennt
Odysseus     der nicht zurückkehren darf
Odysseus     ohne Datum  für die Heimkehr
er nimmt seine Frau     seine Kinder     die Blumen in die Arme
und entzündet die Fackel der Poesie
er ruft hinaus aufs offene Meer
ist da    jemand
gibt es Gesichter     die Zeugnis ablegen von seinem Dasein?
wo das nächtliche Meer     
in tausend-     zehntausend-     hunderttausendfacher Gestalt
kopuliert mit den Sternen     die in die Wellen sinken
stimmt auch er ein     in ihre Melodie
auf der Suche nach dem Land in seinem Inneren
wird er Teil der asketischen Liebesübung    
auch wenn er Gesichter seiner Kindeskinder zu Tausenden ja
                                                                        Hunderttausenden

hervorbringen kann
vermag er nicht seinem eigenen     einzigen
neugeborenen Gesicht zu begegnen
noch es zu berühren
deshalb
überquert Odysseus heute
auch heute wieder
das Meer     und geht an Land
betritt nachmittags um Zwei     ein Gebäude
in einem trostlosen Provinznest im Mittleren Westen von Amerika
keiner
nimmt ihn wahr
er gehört nicht zum Gefolge des Präsidenten
trägt keinen Revolver     ist auch kein Gangster
und kein vor Muskeln strotzender Box-Champion
er ist groß     hat eine wohlgeformte Nase
und er ist schön     weil er Würde und Feuer in sich birgt
weitere    nennenswerte Eigenschaften hat er nicht
solange sie nicht gewalttätig sind
und  keine Titel tragen
geraten die Menschen in Vergessenheit
Philosophie ist etwas Lebendiges     das man nicht sieht
heute     hat man selbst vor Geistern keine Angst
vor lebendigen     erst recht nicht
so     lebt er     schon seit Tausenden von Jahren
und wird auch nicht mehr sterben
zu sterben ist ihm nicht erlaubt
denn er ist     Odysseus
zu Lebzeiten schon ein Mythos

„heut nacht fühl‘ ich mich wunderbar“
sagt     er     in seiner Trunkenheit
aber     hat er wirklich einen Rausch?
kann er     betrunken werden
wenn er in einem Meer aus Alkohol Sirenen singen hört?
gibt es für ihn Sirenen?
aus dem Sirenengesang     wird Elvis’ Stimme
kann Presley zur Sirene werden?
trägt ihn eine Schallplatte aus der Zeit des Rock’n Roll
auf die Insel der Sirenen?
Er spricht von einem     der nach Indien zog
von einem eigenwilligen Mann namens Snyder    
er denkt     daß dessen Kunst nach eigenem Wunsch zu leben  
wie der Griff nach fernen Wolken ist
wie das Verspeisen eines Regenbogens   
oder das Schlafen mit dem Regenbogen
und dann  
geht die Sirene unberührt
alleine schlafen  
in den Schallplatten von Elvis

wenn er morgens aufsteht     nach dem Mittagessen wiederkommt
oder nachts zu Bett gehen will     findet er weder im Spiegel noch im
                                                              Schlafraum
sein Gesicht     „ah!“
denkt er „ich bin Odysseus“
der noch nicht     heimkehrt
nicht heimkehren kann     der     auch wenn er möchte     keine Heimat hat
der stets auf Reisen ist

ein Blues erklingt
aus dem einsamen Land   eines namenlosen Einzelgängers
Tausende von Jahren älter als Dixie
erklingt
einem Neugeborenen in seinem ersten Bad

Aus dem Japanischen übertragen von Annelotte Piper



aus: Odysseus heute. Ausgewählte Gedichte. edition KAPPA 2001



© edition KAPPA 2001