Jan Volker Röhnert
Wolkenformeln
Die Träume des Himmels, sagtest du im Schlaf,
wälztest dich auf dem Laken im Mondlicht, bis
du auf andere Gedanken kamst. Wolken, wie
Träume, entziehen sich, wenn du von ihnen sprichst.
Auf der Mole ein Kranich, der in den Windstößen
des Nachmittags seine Flügel spreizt - wenn
er abschweift und taucht, sein Wille
im Glitter des Sees mit Wellen und Wolken vereint.
Meteorologie - Geographie des Himmels,
fluider Formen, staatenloser sans papiers,
kennt keinen Kontinent. Die Liebe
fragiler, treibender Moleküle bauscht meinen Block.
Aus Wolken das Spiel der Jahreszeiten mit der Welt:
Der Sommer Amerika, Europa der Herbst,
Afrika Winter, Asien der Frühling beschert.
Die Ozeane sind Tag- und Nachtgleichen,
an denen der Kalender der Wolken verläuft.
Wenn Vögel fliegen, ahmen sie
die Drift der Wolken nach. Wenn du
zum Himmel schaust, ahnst du, wie
billig doch die Sprache ist: Mit Worten
erreichst du sie so wenig wie du selber
fliegen kannst. Sie sind die Partitur
von Windstille, Regenfällen, Dämmerung;
im Sommertag ihr Schatten auf dem Buch,
im Herbsttag ihre Konturen auf dem Falz
des umgeklappten Paperbacks. Lackierter
Lattenrost von Holzstühlen im Gras,
Wolkenliebe, ein Drama in zwölf Monaten,
dreißig Tagen, vierundzwanzig Stunden. Goethe
zog seinen Farbkreis aus der Wolkenschau,
Luft und Licht Kontrast zum dominanten Blau.
Wenn die Wolken günstig sind, fährst
du in die Ferien, nimmst den Gedankenweg
nach Haus. Wolkenregel Nummer eins:
Mit Wolken spielen ist kein Spiel.
Regel Nummer zwei: Mit Wolken spielen
ist kein Spiel zuviel. Wolken treiben
ihr Spiel mit der Philosophie: Plato
ist Nimbus, Descartes Zirrus, Nietzsche Stratocumulus.
Die Blätter enthalten Fragmente von Geschichten,
die sich über die Wolken hin verteilen.
Einsteins Formeln sind Wolkenmuster
in Ziffern übersetzt. Wer schreibt die Geschichte
der Wolken völlig neu? (Rimbaud)
Pascals Wolken kommen nicht in seinen Gedanken vor.
Von Polen bis Frankreich hat er
unter Schönwetterwolken gedöst.
Gänseblümchen und Wolken: ein Kinderlied.
Die Passagiere auf der Wolke kreuzen die See.
Die Wolken, eine Band, die alle Songs nachspielt,
auch kalifornische, wo es nie regnen soll.
Wenn der Erzähler von der Bühne tritt,
geht die Geschichte weiter wie ein Wolkenfilm,
wie ein Highway westwärts, wie Melodien
von John Cage. Die Gedichte Böhmers
regnen sich ab, Meere und Gletscher
am Horizont, Wale blasen den Salzdunst
neun Meilen hoch, bis über ihnen
eine Wolke erscheint. Gewisse Abende
siehst du mit den Augen von Poussin:
Wälder, auf denen die sanfte, flache Wolkenhand
eines südlichen Frühsommers ruht. Weidende Kühe
und bei der Brücke das Paar, Helios' Tempel
ein dorischer Säulenstumpf, in den blauen
Zwischenräumen die Gegenwart des Lichts fixiert:
eine ganze Landschaft bis zum Rahmen
um der reinen Wolken willen arrangiert.
Im Gefieder der Schwäne und Reiher
setzen sich die Wolken fort.
Du kommst ihnen am nächsten, wenn du staunend
vom Fenster des Sees ins Leere blickst.