Andre Rudolph
on the roof
da oben, auf dem beleuchteten dach, saß
gestern früh um halb fünf
diese amsel, du erinnerst dich, und
klackerte mit ihren pfennigabsätzen, während
wir unser gutenachtbier tranken
und ihr zuhörten;
gedichte über amseln haben ja
den vorteil, dass sie schwarz sind und
von den rändern her singen,
das problem bei diesen vögeln ist nur,
dass sie es einem nicht leicht machen,
das thema zu wechseln, wenn sie
einmal aufgetaucht sind;
ja, christoph, es war eine lange nacht
und wir haben wiedermal versucht, gemeinsam
so eine lady aufzutun, aber als sie dann
zwischen uns auf deinem sofa saß, ließ sie es
kaum zu, dass wir auch nur in gedanken
ihren goldnen bauchnabel berührten;
golden war ihr bauchnabel, ja, und aus
zungen, und aus lauterem gold, und üppig war sie
wie die sicherungskopie einer mahlersinfonie,
aber ihre außentemperatur: höchstens 35
grad, und mit ihr zu tanzen schwerer als
damals deinen kleiderschrank übers
treppenhaus in die dritte etage zu wuchten,
good lord;
ich sage dir, wir hätten unsre rumänischen
trachtenkostüme rausholen sollen, dann hätten
wir vielleicht eine chance gehabt, aber
ich hab ja ihre hände studiert, glaub mir, diese über-
scharfe merkurlinie, die sich entlang
ihrer handkanten hinzog wie eine alte wunde, –
das hätte wirklich andere maßnahmen
erfordert, – ja, hätte es wohl;
jemand muss sie verletzt haben, sagst du,
und hast vielleicht sogar recht, aber
das rettet uns jetzt auch nicht mehr;
ja, nein, lassen wir es, man muss nicht immer
alles ausbabeln, nicht wahr, bis zum großen
finale…
genau, lass uns die amsel bezahlen und gehn.