Orsolya Kalász
Ich habe das Gedicht von Christine Lavant gelesen
Ich habe das Gedicht von Christine Lavant gelesen
1.
und stell' mich ans offene Fenster.
Draußen ist es schon dunkel, Autos bleiben stehen und
fahren weiter, und dann beginnt es.
Im Turm des Rangierbahnhofes gegenüber brennt Licht
und ein Mann der vor sich hin pfeift steht dort am offenen
Fenster, wir sehen uns,
nein, nur ich sehe ihn,
ich bin mir nicht sicher, aber die Entfernung hat jetzt zwei
Punkte, quer über die Schienen
ein kleiner Bogen,
ihr kleiner Klangbogen -
als mir einfällt, daß eine andere Glocke nach Tobolsk verbannt
wurde, aber erst, nachdem sie die ihr zugeteilte
körperliche Strafe erduldete: »die Ohren abgeschnitten,
das Gesicht rausgerissen, das heißt die Seite. Und die Zunge
herausgerissen.«
2.
Punkte der Entfernungen,
die sich um mich herum bewegen und so graziös,
daß es ein Tanz wird, Tanz der Dichterinnen, zu einem Muster
wie sie sich drehen, drehen nach links, drehen nach rechts
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soll es doch so bleiben, so graziös,
wie sie im Gedicht zugeteilten Raum erscheinen, es umkreisen
und dort Manuel Alcantara, spanisch-französischer Übersetzer,
auf einem Globus balancierend
ihren Wunsch erfüllt,
mit der linken Hand endlich abmißt,
wieviele Finger breit die Entfernung zwischen
den Spitzen zweier Brüste ist:
Die Wahrheit ist,
es gibt zwei Hände
und drei, drei Hände und einen Finger Breite
und das ist noch nicht alles,
denn die mit Mandelöl gepflegte Hand Alcantaras rutscht
ein wenig, und das ist noch nicht alles, weil er im Kreise der
Dichterinnen an sie denkt, wird die Entfernung von Sehnsucht
erfüllt, seine Finger tasten nach Paris, von dort nach Budapest,
hin und her zwischen Budapest und Moskau, Berlin
und Amsterdam, und Tallin, und ich schreibe auf
die Glasscheibe: die Fahrt
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und dann ist es schon Zeit zu gehen, dieses Zimmer
zu verlassen, das Fenster zu schließen und
in einen Zug zu steigen, oder Geld
für eine Flugkarte zu besorgen
oder so etwas,
das Gedicht, ja auch das Gedicht zu schreiben, aber später,
an einem anderen Punkt angelangt,
solange können die Wörter verdeckt bleiben, wie sich sein
Körper von meinem Körper, mein Körper von deinem Körper,
dein Körper von ihrem Körper verhüllen läßt
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wenn dann aus diesen Drehungen
auch das Gedicht geschrieben wurde und nach süßbitterem
Mandelöl duftet, kann sich genausogut eine Fliege
auf das Papier setzen, und egal woher du kommst,
solange du zur freundlichen Gruppe der Feiernden gehörst,
kannst du wählen, ob du an den Zeilen entlang oder
auf dem mandelöligen Rücken der Fliege reisen willst,
von Tallin nach New York, oder nach Lavanttal
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und wahr ist auch, daß zwei Dichterinnen am selben Tag,
nicht im selben Jahr und Tal geboren sind
und so ein Paar bilden,
und daß dreiundvierzig Jahre später die Seite, auf der O.
zum ersten Mal das Gedicht von C. liest,
unverdeckt ist, Christines Zeilen lückenlos sind:
» ›Liebster‹ – was ist das – geht es rasch vorüber,
läßt es sich fassen, ohne Schmerz zu machen,
und bleibt an einem hinterher dann etwas
wie ein Blütenstaub und ein Geruch verhaftet
oder vergeht daran nur das Gefühl für gestern?«
oder das Gefühl der Erstarrtheit, wie die der Glocke,
die wegen der Ermordung des Thronfolgers läutete,
denn später wurde der Verurteilte wieder gebraucht
»Man schmiedet ihr neue Ohren und
hängt eine neue Zunge hinein«.
Und nach rechts und links schwingend ertönt sie
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wie die Glocken im Lavanttal am Feiertag, und endlich
erscheint auch Christine, mit dem Lärm der Menge
tritt sie ein, Magnete in allen Sinnen, dorthin,
wo dreiundvierzig Jahre später aus dem Bogen
zweier Töne wieder:
»Tiere kommen, große dunkle Tiere,
in die man einsteigt, weil ihr Kopf so heult,«
und drinnen Dunkelheit und die Dinge, die Dinge nur
Stoßpunkte von einem zum anderen – wir fahren!
»Und innen sagt jemand dann: – wir fahren! – «
Aus dem Ungarischen übertragen von Orsolya Kalász