Jos de Haes (1920-1974) ist ein flämischer Dichter, der ein sehr bescheidenes, idiosynkratisches Gesamtwerk hinterließ, welches sich hartnäckig gegen jegliche Zuweisung und Eingrenzung in Bewegungen und Moden wehrt. Sein Werk kombiniert Elemente traditioneller Poesie mit Errungenschaften des Modernismus. Das Studium der klassischen Sprachen und die damit verbundenen häufigen Reisen nach Griechenland haben eine deutliche Spur in seiner Poesie hinterlassen. De Haes übertrug Werke von Pindar und Sophokles und seine Poesie bezieht sich häufig auf die klassische Mythologie (Delphi, Medea, die Sybillen, Plato...).
Das Hauptmotiv seines Werks ist die Erfahrung der Körperlichkeit beladen mit Gefühlen von Schuld und Impotenz. Dieses alles durchdringende Gefühl der Sünde führt zu einem Verlangen von Selbsterniedrigung und Sühne. Tod und Vergänglichkeit sind zentrale Themen. Zum einen zeigt sich der Tod in Motiven wie Verwesung, Zerfall zu Staub, Zersplitterung, Verrottung. Zum anderen präsentiert sich der Tod als Versteinerung und Verdichtung: Fossilien, Glas, Metall und Eis sind wichtige Elemente in De Haes’ Lyrik. Manchmal erhält der Tod auch eine kosmische eschatologische Dimension, als läuternde Bewegung hin zum Licht.
Im manieristischen Stil und der kondensierten, physischen, erdigen und konkreten Bildsprache seiner letzten Sammlung Azuren Holte, die 1965 mit dem angesehenen Staatspreis für Poesie ausgezeichnet wurde, erreichen diese Themen einen Höhepunkt. Das Streben nach Reinheit durch Selbstzerstörung ist gut erkennbar im Zyklus ‘Delphi’, wo es immer wieder zu rituellen Selbstopfern kommt. Ein anderer Höhepunkt dieser Sammlung sind die erotischen Gedichte des Zykls ‘La Noue’. Die Aversion gegen seinen Körper und der Drang nach Selbsterniedrigung sind beladen mit sexuellem Verlangen.
Azuren Holte wird als der Höhepunkt De Haes’ Lyrik angesehen, stellt aber gleichzeitig auch deren Ende dar. Nach dieser Sammlung veröffentlichte der Dichter lediglich vier weitere Gedichte. Die Bildsprache ist in diesen noch konkreter und sinnlicher geworden. Zum ersten Mal wirft der Dichter den Reim über Bord, das Gefühl der Impotenz wird so auch in der Versform wiedergespiegelt.
Jos de Haes starb relativ jung im Jahre 1974. Seine Gedichte wurden von einer kleinen heterogenen Gruppe von Poeten in Flandern und den Niederlande hochgehalten. 2004 erschien eine kritische Ausgabe mit seinen gesammelten Gedichten.