Derk Wynand

anglais

Den Horizont überschreiten

DEN HORIZONT
ÜBERSCHREITEN

Ein wald hinter einem wald, der vor einem
wald liegt; wer geht in ihm herum, wer tritt
in ihm auf pilze, beeren?

Obgleich man viele dinge über diesen wald
erzählt, man weiß von ihnen nie, ob sie stim-
men, ob sie erfunden sind.

Wenn der wald hier schweigt, hört man die
glocken, aber der wald liegt sehr einsam,
keine dörfer, keine kirchspiele oder städte
weit und breit; nur ein teich darin, sehr dun-
kelhäutig, sehr unergründlich.

Du weißt nicht, wovon du redest, du bist
allein, du ertappst dich unversehens beim
sprechen: worte fern wie glocken, fern wie
die tiefe des teiches, und ein eichhorn, das dir
jeglichen vokal von den lippen stiehlt; was
bleibt, ist ein dürres gerüst gleich der abge-
nadelten fichte.

Der jagdruf des zobels, der hier nicht haust,
läßt nester erzittern: eine excellente mahlzeit
wäre es, aus weißem zerbrechlichen porzellan
zu speisen.

Man sagt, es sei ein wunderbares vergnügen,
durch die länder zu reisen, die wiesen zu be-
gehen, die wälder zu durchqueren; die wald-
rose zählt zu den schönsten, ist die trösterin
verliebter botaniker, ist eine windrose, die
ihre zarten blättlein in alle richtungen ver-
streut.

Über den wald ziehen verschiedene wolken
in ständig sich ändernden bildern: der delfin,
der jaguar, das geweih des hirsches, der zer-
fallende aschenkrug, die fast menschliche
figur...

Der geschmack des waldes ist an gewissen
stellen wie der geruch der besonnten him-
beere, an anderen stellen wie der schatten
beregneter pilze; du weißt nicht, wovon du
redest, aber du erkennst den geruch, den ge-
schmack und die schatten deiner worte.

Der mörderische strahl, der pfeil, im dichten
wald geht er nur sieben bäume tief, dann
copuliert er mit der rinde des achten – ein
paradiesisches irrsal dem flüchtenden.

Du bist der unreinen lust der jagd nicht ver-
bunden, viele sonnen hast du gesehen, wie
gute pfeile trafen ihre strahlen, drangen ein
mit feiner, wohltuender wärme; auf dem
teich schwimmen auch die weißen blüten, es
nagt sie kein wurm, keine schnecke.

Deine hand wird nicht müd, über laubiges zu
streichen, über den saftigen farn, über moos
und die tauigen blätter der coniferen – eine gol-
dene leiter baut dir die sonne an die brust, ein
geschwister des regenbogens...

© 1974 Residenz Verlag Salzburg
Extrait de: Unter der bedeckung eines Hutes. Montagen und Sequenzen
Salzburg/Wien: Residenz Verlag, 1975
Production audio: Österreichischer Rundfunk 1996

Crossing the Horizon

A forest behind a forest that lies before
a forest: who wanders about in there?
Who steps on mushrooms there and on berries?

Although many tales are told of this forest,
one never knows if they're true or
invented.

When this forest falls silent, the bells can be heard,
but the forest is very isolated:
not a village, no parish or city near or far;
only a pond within, quite
swarthy, quite bottomless.

You don't know what you're talking about; you are
alone; you catch yourself unawares,
speaking: words remote as bells, remote
as the pond's depth, and a squirrel
that steals each vowel from your lips; what
remains is a barren frame like a
stripped spruce tree.

The hunting cry of the sable, which does not make its home here,
causes nests to tremble: what an excellent repast
it would be to dine from fragile white porcelain.

They say it's a great pleasure
to travel through the countryside, walk over
the meadows, pass through the forests; the wild
rose counts among the most beautiful, is a solace to
love-stricken botanists, is a wind rose that
scatters its delicate petals in every direction.

Various clouds drift over the forest
in constantly changing formations: the dolphin,
the jaguar, the deer's antlers, the
crumbling funeral urn, the almost human
shape . . .

In certain places, the forest's savour
is like the scent of the sun-drenched raspberry;
in other places, like the shadow
of rain-soaked mushrooms; you don't know
what you're talking about, but you recognize the scent,
the savour, and the shadows of your words.

The murderous ray, the arrow: in the dense
forest it misses seven trees only, then
copulates with the bark of the eighth —
a paradisiacal vagary for the fugitive.

You are not involved in the impure hunting passion;
you have seen many suns, their
rays striking like true arrows,
penetrating with a fine, comforting warmth; and on
the pond, the white blossoms are floating, gnawed
on by no worm, no snail.

Your hand does not tire of stroking foliate
things: the sappy fern, the moss
and the conifers' dewy beards —
at your breast, the sun raises a golden ladder,
brother of the rainbow . . .

© Translated by Derk Wynand

aus: H.C. Artmann, Under the Cover of a Hat:
Montages and Sequences and Green-Sealed Message:
90 Dreams
Quartet Books Ltd., London, 1985