Simon Werle 
Translator

on Lyrikline: 10 poems translated

from: anglais to: allemand

Original

Translation

Step

anglais | Michael Ondaatje

The ceremonial funeral structure for a monk
made up of thambili palms, white cloth
is only a vessel, disintegrates

completely as his life.

The ending disappears,
replacing itself

with something abstract
as air, a view.

All we'll remember in the last hours
is an afternoon—a lazy lunch
then sleeping together.

Then the disarray of grief.


On the morning of a full moon
in a forest monastery
thirty women in white
meditate on the precepts of the day
until darkness.

They walk those abstract paths
their complete heart
their burning thought focused
on this step, then this step.

In the red brick dusk
of the Sacred Quadrangle,
among holy seven-storey ambitions
where the four Buddhas
of Polonnaruwa
face out to each horizon,
is a lotus pavilion.

Taller than a man
nine lotus stalks of stone
stand solitary in the grass,
pillars that once supported
the floor of another level.

(The sensuous stalk
the sacred flower)

How physical yearning
became permanent.
How desire became devotional
so it held up your house,
your lover's house, the house of your god.

And though it is no longer there,
the pillars once let you step
to a higher room
where there was worship, lighter air.

© Michael Ondaatje
Published with permission of the author
from: Handwriting
Toronto: McClelland and Stewart, 1998
Audio production: Literaturwerkstatt Berlin 2010

Schritt

allemand

Der zeremonielle Grabbau für einen Mönch,

bestehend aus Thambili-Palmen, weißem Tuch,

ist nur ein Gefäß, zerfällt


vollständig wie sein Leben.


Das Ende verschwindet,

ersetzt sich selbst


durch etwas Abstraktes

wie Luft, eine Aussicht.


Alles, woran wir uns erinnern werden in den letzten

        Stunden,

ist ein Nachmittag – ein träges Mittagessen,

dann zusammen schlafen.


Dann die Wirrnis des Kummers.



An einem Vollmondmorgen

in einem Waldkloster

meditieren dreißig Frauen in Weiß

über die Gebote des Tages

bis zur Dunkelheit.


Sie gehen jene abstrakten Pfade

ihr ganzes Herz

ihr brennendes Denken konzentriert

auf diesen Schritt, dann diesen Schritt.

In der roten Ziegeldämmerung

des heiligen Vierecks,

unter heiligen siebenstöckigen Ambitionen,

wo die vier Buddhas

von Polonnaruwa

auf jeden Horizont hinausblicken,

steht ein Lotospavillon.


Höher als ein Mensch

stehen neun Lotosstiele aus Stein

einsam im Gras,

Säulen, auf denen einst

das Fundament eines zweiten Stockwerks ruhte.


(Der sinnliche Stiel

die heilige Blume)


Wie körperliche Sehnsucht

beständig wurde.

Wie Begehren zu Frömmigkeit wurde,

so daß es dein Haus aufrecht hielt,

das Haus deines Geliebten, das Haus deines Gottes.


lind obwohl es nicht mehr da ist,

ließen die Säulen dich einst hinaufgehen

in einen höheren Raum,

in dem Andacht war, leichtere Luft.

Aus dem Englischen von Simon Werle
Aus: Handschrift, Gedichte © Hanser Verlag, München 2001

Last Ink

anglais | Michael Ondaatje

In certain countries aromas pierce the heart and one dies
half waking in the night as an owl and a murderer's cart go by

the way someone in your life will talk out love and grief
then leave your company laughing.

In certain languages the calligraphy celebrates
where you met the plum blossom and moon by chance

—the dusk light, the cloud pattern,
recorded always in your heart

and the rest of the world—chaos,
circling your winter boat.

Night of the Plum and Moon.

Years later you shared it
on a scroll or nudged
the ink onto stone
to hold the vista of a life.

A condensary of time in the mountains
—your rain-swollen gate, a summer
scarce with human meeting.
Just bells from another village.

The memory of a woman walking down stairs.

Life on an ancient leaf
or a crowded 5th-century seal

this mirror-world of art
—lying on it as if a bed.

When you first saw her,
the night of moon and plum,
you could speak of this to no one.
You cut your desire
against a river stone.
You caught yourself
in a cicada-wing rubbing,
lightly inked.
The indelible darker self.

A seal, the Masters said,
must contain bowing and leaping,
"and that which hides in waters."

Yellow, drunk with ink,
the scroll unrolls to the west
a river journey, each story
an owl in the dark, its child-howl

unreachable now
—that father and daughter,
that lover walking naked down blue stairs
each step jarring the humming from her mouth.

I want to die on your chest but not yet,
she wrote, sometime in the 13 th century
of our love

before the yellow age of paper

before her story became a song,
lost in imprecise reproductions

until caught in jade,

whose spectrum could hold the black greens
the chalk-blue of her eyes in daylight.


Our altering love, our moonless faith.

Last ink in the pen.

My body on this hard bed.

The moment in the heart
where I roam restless, searching
for the thin border of the fence
to break through or leap.

Leaping and bowing.

© Michael Ondaatje
Published with permission of the author
from: Handwriting
Toronto: McClelland and Stewart, 1998
Audio production: Literaturwerkstatt Berlin 2010

Letzte Tinte

allemand

In manchen Ländern durchdringen Aromen das Herz

       und man stirbt

nachts im Halbschlaf, während eine Eule und die

       Karre eines Mörders vorbeiziehen

auf die Art, wie jemand in deinem Leben sich Liebe und Kummer

       von der Seele spricht,

dann lachend deine Gesellschaft verläßt.

In manchen Sprachen feiert die Kalligraphie den Ort,

wo du zufällig Pflaumenblüte und Mond getroffen hast

– das Dämmerlicht, das Wolkenmuster,

für immer aufgezeichnet in deinem Herzen

und der Rest der Welt – Chaos,

das dein Winterboot umkreist.

Nacht von Pflaume und Mond.

Jahre später teiltest du es mit

auf einer Schriftrolle oder schnicktest

die Tinte gegen Stein,

um den Ausblick auf ein Leben festzuhalten.

Ein Kondensat von Zeit in den Bergen

– dein regengeschwollenes Tor, ein Sommer

karg an Menschentreffen.

Nur die Glocken von einem anderen Dorf.

Die Erinnerung an eine Frau, die eine Treppe hinunterging.

Das Leben auf einem alten Blatt

oder ein überfülltes Siegel des fünften Jahrhunderts

diese Spiegelwelt der Kunst

– darauf liegend wie auf einem Bett.

Als du sie zum erstenmal sahst,

in der Nacht von Mond und Pflaume,

konntest du zu niemandem davon sprechen.

Du schnittest dein Begehren

in einen Flußstein.

Du ertapptest dich selbst

bei einem Reiben von Zikadenflügeln,

leicht mit Tinte gefärbt.

Das unzerstörbare dunklere Selbst.

Ein Siegel, sagten die Meister,

muß enthalten Verbeugung und Sprung

»und das, was sich im Wasser verbirgt«.

Gelb, trunken vor Tinte,

entrollt sich die Schriftrolle gen Westen,

eine Flußreise, jede Geschichte

eine Eule im Dunkeln, ihr Kindergeheul

jetzt unerreichbar

– jener Vater mit Tochter,

jene Verliebte, die nackt eine blaue Treppe hinuntergeht,

bei jeder Stufe verzerrt sich leicht das Summen aus ihrem Mund.

Ich möchte auf deiner Brust sterben, aber noch nicht jetzt,

schrieb sie irgendwann im dreizehnten Jahrhundert

von unserer Liebe

vor der gelben Epoche des Papiers

bevor ihre Geschichte zu einem Lied wurde,

verloren in ungenauen Wiedergaben

bis es gefaßt war in Jade,

deren Spektrum die schwarzen Grüntöne enthalten konnte,

das Kalkblau ihrer Augen bei Tageslicht


Unsere sich wandelnde Liebe, unser mondloser Glaube.

Letzte Tinte in der Feder.

Mein Körper auf diesem harten Bett.

Der Augenblick im Herzen,

da ich ruhelos umherirre auf der Suche

nach der dünnen Grenze des Zauns,

um durchzubrechen oder darüberzuspringen.

Sprung und Verbeugung.

Aus dem Englischen von Simon Werle Aus: Handschrift, Gedichte © Hanser Verlag, München 2001

[What were the names of the towns]

anglais | Michael Ondaatje

What were the names of the towns
we drove into and through

stunned    lost

having drunk our way
up vineyards
and then Hot Springs
boiling out the drunkenness

What were the names
I slept through
my head
on your thigh
hundreds of miles
of blackness entering the car

All this
darkness and stars
but now
under the Napa Valley night
a star arch of dashboard
the ripe grape moon
we are together
and I love this muscle

I love this muscle
that tenses

and joins
the accelerator
to my cheek

© Michael Ondaatje
Published with permission of the author
Audio production: Literaturwerkstatt Berlin 2010

[Wie hießen die Namen der Städte]

allemand

Wie hießen die Namen der Städte,
in die wir hinein- und hindurchfuhren

         verblüfft verirrt

Weinberge hinauf
hatten wir unseren Weg getrunken
und dann kochten heiße Quellen
uns den Rausch wieder aus

Wie hießen die Namen,
die ich durchschlief
             mit meinem Kopf
auf deinen Schenkeln,
während Hunderte Meilen Schwärze
in den Wagen krochen

             All das
             Dunkel und die Sterne
aber jetzt
unter der Nacht von Napa Valley
einem Sternbogen in Form eines Armaturenbretts
und dem reifen Weintraubenmond
sind wir zusammen
und ich liebe diesen Muskel

Ich liebe diesen Muskel,
der sich anspannt

        und das Gaspedal
an meine Wange
bringt

Aus dem Englischen von Simon Werle

[Kissing the stomach]

anglais | Michael Ondaatje

Kissing the stomach
kissing your scarred
skin boat. History
is what you've travelled on
and take with you

We've each had our stomachs
kissed by strangers
to the other

and as for me
I bless everyone
who kissed you here

© Michael Ondaatje
Published with permission of the author
Audio production: Literaturwerkstatt Berlin 2010

[Küsse auf den Bauch]

allemand

Küsse auf den Bauch,
Küsse auf dein vernarbtes
Hautboot. Geschichte ist,
worauf du gereist bist
und was du bei dir trägst

Jeder von uns wurde
auf den Bauch geküßt
von – für den anderen – Fremden

und zumindest ich
gebe jedem meinen Segen
der dich da geküßt hat

Aus dem Englischen von Simon Werle

Wells II

anglais | Michael Ondaatje

The last Sinhala word I lost
was vatura.
The word for water.
Forest water. The water in a kiss. The tears
I gave to my ayah Rosalin on leaving
the first home of my life.

More water for her than any other
that fled my eyes again
this year, remembering her,
a lost almost-mother in those years
of thirsty love.

No photograph of her, no meeting
since the age of eleven,
not even knowledge of her grave.

Who abandoned who, I wonder now.

© Michael Ondaatje
Published with permission of the author
from: Handwriting
Toronto: McClelland and Stewart, 1998
Audio production: Literaturwerkstatt Berlin 2010

Brunnen II

allemand

Das letzte singhalesische Wort, das mir entfiel,
war vatura.
Das Wort für Wasser.
Waldwasser. Das Wasser in einem Kuß. Die Tränen,
die ich um meine Ayah Rosalin vergoß, als ich
das erste Zuhause meines Lebens verließ.

Mehr Wasser für sie als jede andere,
das wieder aus meinen Augen trat
dies Jahr bei der Erinnerung an sie,
eine verlorene Beinahemutter in jenen Jahren
dürstender Liebe.

Kein Photo von ihr, kein Wiedersehen
seit dem Alter von Elf,
nicht einmal Kenntnis von ihrem Grab.

Wer verließ wen, frag ich mich jetzt.

Aus dem Englischen von Simon Werle
Aus: Handschrift, Gedichte © Hanser Verlag, München 2001

To A Sad Daughter

anglais | Michael Ondaatje

All night long the hockey pictures
gaze down at you
sleeping in your tracksuit.
Belligerent goalies are your ideal.
Threats of being traded
cuts and wounds
- all this pleases you.
0 my god! you say at breakfast
reading the sports page over the Alpen
as another player breaks his ankle
or assaults the coach.

When I thought of daughters
I wasn't expecting this
but I like this more.
I like all your faults
even your purple moods
when you retreat from everyone
to sit in bed under a quilt.
And when I say 'like'
I mean of course 'love'
but that embarrasses you.
You who feel superior to black and white movies
(coaxed for hours to see Casablanca)
though you were moved
by Creature from the Black Lagoon.

One day I'll come swimming
beside your ship or someone will
and if you hear the siren
listen to it. For if you close your ears
only nothing happens. You will never change.

I don't care if you risk
your life to angry goalies
creatures with webbed feet.
You can enter their caves and castles
their glass laboratories. Just
don't be fooled by anyone but yourself.

This is the first lecture I've given you.
You're 'sweet sixteen' you said.
I'd rather be your closest friend
than your father. I'm not good at advice
you know that, but ride
the ceremonies
until they grow dark.

Sometimes you are so busy
discovering your friends
I ache with a loss
— but that is greed.
And sometimes I've gone
into my purple world
and lost you.

One afternoon I stepped
into your room. You were sitting
at the desk where I now write this.
Forsythia outside the window
and sun spilled over you
like a thick yellow miracle
as if another planet
was coaxing you out of the house
— all those possible worlds! -
and you, meanwhile, busy with mathematics.

I cannot look at forsythia now
without loss, or joy for you.
You step delicately
into the wild world
and your real prize will be
the frantic search.
Want everything. If you break
break going out not in.
How you live your life I don't care
but I'll sell my arms for you,
hold your secrets for ever.

If I speak of death
which you fear now, greatly,
it is without answers,
except that each
one we know is
in our blood.
Don't recall graves.
Memory is permanent.
Remember the afternoon's
yellow suburban annunciation.
Your goalie
in his frightening mask
dreams perhaps
of gentleness.

© Michael Ondaatje
Published with permission of the author
Audio production: Literaturwerkstatt Berlin 2010

An eine traurige Tochter

allemand

Die ganze Nacht blicken die Hockeybilder
herunter auf dich,
während du, in deinem Trainingsanzug, schläfst.
Kriegerische Torhüter sind dein Idol.
Drohungen, ausgetauscht zu werden,
Schnitte und Wunden
– all das gefällt dir.
O mein Gott! sagst du beim Frühstück,
während du über dem Alpen-Müsli die Sportseite liest,
schon wieder hat ein Spieler sich den Knöchel gebrochen
oder den Trainer attackiert.

Als ich an Töchter dachte,
habe ich etwas anderes erwartet,
aber so ist es mir lieber.
Ich mag alle deine Fehler,
sogar deine dunklen Launen,
wenn du dich von allen zurückziehst
und auf dem Bett unter einer Steppdecke sitzt.
Und wenn ich ›mögen‹ sage,
dann meine ich natürlich ›lieben‹,
aber das wäre dir peinlich.
Wo du dich doch über Schwarzweißfilme erhaben fühlst
(zu Casablanca mußte man dich stundenlang überreden),
obwohl du von Creature from the Black Lagoon
gerührt warst.

Eines Tages komme ich längsseits
zu deinem Schiff geschwommen, oder ein andrer wird es tun,
und wenn du die Sirene hörst,
gib auf sie acht. Denn wenn du deine Ohren schließt,
passiert bloß: nichts. Du wirst dich nie verändern.

Es ist mir egal, ob du dein Leben
für aufgebrachte Torhüter riskierst,
Wesen mit Schwimmhäuten an den Füßen.
Geh ruhig in ihre Höhlen und Schlösser,
ihre Labors aus Glas. Nur laß dich
von niemand anderem zum Narren halten als von dir selbst.

Dies ist die erste Predigt, die ich dir halte.
Du bist ›süße sechzehn‹, hast du gesagt.
Ich wäre lieber dein engster Freund
als dein Vater. Ich bin nicht gut als Ratgeber,
das weißt du; dafür reite ich
auf Förmlichkeiten herum,
bis sie schwarz werden.

Manchmal gehst du so darin auf,
deine Freunde zu entdecken,
daß es mir wehtut wie ein Verlust
– doch das ist Habsucht.
Und manchmal bin ich fort
in meiner eigenen dunklen Welt
und habe dich verloren.

Eines Nachmittags kam ich
in dein Zimmer. Du saßest an dem Tisch,
an dem ich das jetzt schreibe.
Forsythien vor dem Fenster
und die Sonne flutete über dich
wie ein kompaktes gelbes Wunder
als locke ein anderer Planet
dich aus dem Haus
– all diese möglichen Welten! –
und du warst über den Matheaufgaben.

Jetzt kann ich keine Forsythien ansehen
ohne Verlust, oder die Freude an dir.
Du trittst behutsam hinaus
in die wilde Welt,
und dein wahrer Hauptgewinn
wird die rasende Suche sein.
Wünsch dir alles. Wenn du zerbrichst,
dann zerbrich nach draußen, nicht nach innen.
Wie du dein Leben lebst, ist mir egal,
aber ich verkaufe meine Arme für dich,
hüte deine Geheimnisse für immer.

Wenn ich vom Tod rede,
den du jetzt sehr fürchtest,
dann ohne Antworten
außer der, daß jeder,
den wir kennen,
uns im Blut steckt.
Denk nicht zurück an Gräber.
Das Gedächtnis überdauert.
Erinnere dich an die gelbe
Vorstadtverkündigung des Nachmittags.
Dein Torwart
in seiner furchteinflößenden Maske
träumt vielleicht
von Freundlichkeit.

Aus dem Englischen von Simon Werle

The Great Tree

anglais | Michael Ondaatje

"Zou Fulei died like a dragon breaking down a wall...

this line composed and ribboned
in cursive script
by his friend the poet Yang Weizhen

whose father built a library
surrounded by hundreds of plum trees

It was Zou Fulei, almost unknown,
who made the best plum flower painting
of any period

One branch lifted into the wind

and his friend's vertical line of character

their tones of ink
—wet to opaque
dark to pale

each sweep and gesture
trained and various
echoing the other's art

In the high plum-surrounded library
where Yang Weizhen studied as a boy

a moveable staircase was pulled away
to ensure his solitary concentration

His great work
"untrammelled" "eccentric""unorthodox"
"no taint of the superficial"
"no flamboyant movement"

using at times the lifted tails
of archaic script,

sharing with Zou Fulei
his leaps and darknesses

*

"So I have always held you in my heart...

The great 14th-century poet calligrapher
mourns the death of his friend

Language attacks the paper from the air

There is only a path of blossoms

no flamboyant movement

A night of smoky ink in 1361
a night without a staircase

© Michael Ondaatje
Published with permission of the author
from: Handwriting
Toronto: McClelland and Stewart, 1998
Audio production: Literaturwerkstatt Berlin 2010

Der große Baum

allemand

»Zou Fulei starb wie ein Drache, der eine Wand einreißt ...«

diese Zeile vertont und bebändert
in kursiver Schrift
von seinem Freund, dem Dichter Yang Weizhen

dessen Vater eine Bibliothek baute,
die von Hunderten Pflaumenbäumen umgeben war

Der fast unbekannte Zou Fulei war es,
der das beste Pflaumenblütenbild
aller Zeiten schuf

Ein Zweig in den Wind gereckt

und seines Freundes senkrechte Schriftzeichenlinie

ihre Tintentönungen
— naß bis opak
dunkel bis blaß

jeder Schwung und Bogen
einstudiert und vielgestaltig
Widerhall der Kunst des anderen

In der hohen pflaumenumgebenen Bibliothek,
in der Yang Weizhen als Knabe studierte,
wurde eine bewegliche Treppe beiseite gezogen,
damit nichts seine abgeschiedene Konzentration störte

Sein großes Werk
»unbeengt«, »exzentrisch«, »unorthodox«,
»von Oberflächlichkeit nicht angekränkelt«, »ohne fulminante Geste«

bisweilen mit Einsatz der erhöhten Endstriche
der archaischen Schrift,

er teilte mit Zou Fulei
seine Sprünge und Dunkelheiten

»So habe ich dich immer im Herzen gehalten ...«

Der große Dichterkalligraph des vierzehnten Jahrhunderts
betrauert den Tod seines Freundes

Die Sprache attackiert das Papier aus der Luft

Nur einen Blütenweg gibt es

ohne fulminante Geste
eine Nacht rauchiger Tinte anno 1361
eine Nacht ohne Treppe

Aus dem Englischen von Simon Werle
Aus: Handschrift, Gedichte © Hanser Verlag, München 2001

The Cinnamon Peeler

anglais | Michael Ondaatje

If I were a cinnamon peeler
I would ride your bed
and leave the yellow bark dust
on your pillow.

Your breasts and shoulders would reek
you could never walk through markets
without the profession of my fingers
floating over you. The blind would
stumble certain of whom they approached
though you might bathe
under rain gutters, monsoon.

Here on the upper thigh
at this smooth pasture
neighbour to your hair
or the crease
that cuts your back. This ankle.
You will be known among strangers
as the cinnamon peeler's wife.

I could hardly glance at you
before marriage
never touch you
- your keen nosed mother, your rough brothers.
I buried my hands
in saffron, disguised them
over smoking tar,
helped the honey gatherers . . .

When we swam once
I touched you in water
and our bodies remained free,
you could hold me and be blind of smell.
You climbed the bank and said

                    this is how you touch other women
the grass cutter's wife, the lime burner's daughter.
And you searched your arms
for the missing perfume

                                      and knew

                  what good is it
to be the lime burner's daughter
left with no trace
as if not spoken to in the act of love
as if wounded without the pleasure of a scar.

You touched
your belly to my hands
in the dry air and said
I am the cinnamon
peeler's wife. Smell me.

© Michael Ondaatje
Published with permission of the author
from: The Cinnamon Peeler: Selected Poems
New York: Knopf, 1991
Audio production: Literaturwerkstatt Berlin 2010

Der Zimtschäler

allemand

Wäre ich ein Zimtschäler
ich würde dein Bett reiten
und gelben Rindenstaub
auf deinem Kissen hinterlassen.

Deine Brüste und Schultern würden riechen
Du könntest niemals über die Märkte gehen
ohne daß der Beruf meiner Finger
über dich flösse. Die Blinden würden
stolpern, wären sicher, wem sie sich näherten
auch wenn du dich badetest
unter Wasserspeiern, Monsun.

Hier auf dem Oberschenkel
auf dieser weichen Weide
Nachbar deines Haars
oder der Falte
die deinen Rücken teilt. Dieser Knöchel.
Du wirst unter Fremden bekannt sein
als des Zimtschälers Frau.

Ich konnte dich kaum ansehn
vor der Heirat
niemals dich anrühren
deine Mutter mit der feinen Nase, deine rauhen Brüder.
Ich verbarg meine Hände
in Safran, tarnte sie
über rauchendem Teer
half den Honigsammlern ...

Als wir einmal schwammen
berührte ich dich im Wasser
und unsere Körper blieben frei
du konntest mich halten und vom Duft frei sein.
Du stiegst ans Ufer und sagtest

so berührst du andere Frauen
des Grasschneiders Frau, des Kalkbrenners Tochter.
Und du suchtest auf deinen Armen
nach dem fehlenden Parfüm
     und wußtest

was nützt es
des Kalkbrenners Tochter zu sein
zurückgelassen ohne Spur
als würde man im Liebesakt nicht mit ihr sprechen
als sei sie verwundet und ohne die Freuden einer Narbe.

Du brachtest
deinen Bauch an meine Hände
an der trockenen Luft und sagtest
Ich bin des
Zimtschälers Frau. Riech mich.

Aus dem Englischen von Simon Werle und Peter Torberg
Aus: Es liegt in der Familie © Hanser Verlag, München 1982

Nine Sentiments (IX)

anglais | Michael Ondaatje

An old book on the poisons
of madness, a map
of forest monasteries,
a chronicle brought across
the sea in Sanskrit slokas.
I hold all these
but you have become
a ghost for me.

I hold only your shadow
since those days I drove
your nature away.

A falcon who became a coward.

I hold you the way astronomers
draw constellations for each other
in the markets of wisdom

placing shells
on a dark blanket
saying "these
are the heavens"

calculating the movement
of the great stars

© Michael Ondaatje
Published with permission of the author
from: Handwriting
Toronto: McClelland and Stewart, 1998
Audio production: Literaturwerkstatt Berlin 2010

Die neun Gefühle (IX)

allemand

IX

Ein altes Buch über die Gifte
des Wahnsinns, eine Landkarte
von Waldklöstern,
eine übers Meer gebrachte Chronik
in Sanskrit-Slokas.
All dies besitze ich,
du aber bist für mich
zum Gespenst geworden.

Ich besitze nur deinen Schatten
seit jenen Tagen, da ich dein Wesen
vertrieb.

Ein Falke, der ein Feigling wurde.

Ich besitze dich so, wie Astronomen
sich gegenseitig Sternbilder zeichnen
auf den Märkten der Weisheit

indem sie Muscheln
auf ein dunkles Laken legen
und sagen: »Dies
ist der Himmel«,

so das Kreisen
der großen Gestirne berechnend

Aus dem Englischen von Simon Werle
Aus: Handschrift, Gedichte © Hanser Verlag, München 2001

Bearhug

anglais | Michael Ondaatje

Griffin calls to come and kiss him goodnight
I yell ok. Finish something I'm doing,
then something else, walk slowly round
the corner to my son's room.
He is standing arms outstretched
waiting for a bearhug. Grinning.

Why do I give my emotion an animal's name,
give it that dark squeeze of death?
This is the hug which collects
all his small bones and his warm neck against me.
The thin tough body under the pyjamas
locks to me like a magnet of blood.

How long was he standing there
like that, before I came?

© Michael Ondaatje
Published with permission of the author
Audio production: Literaturwerkstatt Berlin 2010

Bärenumarmung

allemand

Griffin ruft, ich soll kommen und ihm einen Gutenachtkuß geben.
Ich rufe: Okay. Bringe etwas zu Ende, das ich gerade tue,
dann noch etwas, gehe langsam um die Ecke
zum Zimmer meines Sohns.
Mit ausgestreckten Armen steht er da
und wartet auf die Bärenumarmung. Grinsend.

Warum nenne ich mein Gefühl nach einem Tier,
gebe ihm diese dunkle Umklammerung des Todes?
Dies ist die eine Umarmung, die all seine kleinen Knochen
und seinen warmen Nacken gegen mich preßt.
Der dünne, zähe Körper saugt sich in seinem Schlafanzug
an mich wie ein Magnet aus Blut.

Wie lange stand er wohl so da,
bevor ich kam?

Aus dem Englischen von Simon Werle