Oliver Mertins
Was Rosenfeld, Ewigkeit, Zonabend und Gebirtig erzählen
Nebelgraue Himmel mit rabenartigen Vögeln durchflochten,
ich träume Gebirge, schwarzblaue Nadelwälder, Feuchtwiesen
und spüre unendliche Steppe am Horizont hinterm Draht,
Grauen der Fremde, und ich träume von dir, Henuschi,
wo bist du, weinst du, fünf Jahre schon und gemeinsam allein
Schmerz des Getrenntseins, während ein Toter aus dem Haus getragen wird,
Leiche in schmierige Papierfetzen gepackt, stündlich, alltäglich
unter furchtbaren Frauenschreien, am Abend vergessen,
man spricht Brotpreis, Margarine, Zucker, zwei Laib Brot
und ein Kilo Zucker, wenn Schreck, Jammer und Hunger zu groß,
wiegen ein Menschenleben auf, mir nicht deine Ferne, Henuschi,
schwarze Riesendohlen fressen die Rinde von den Bäumen,
kotige Wege, Urinrinnen durchsetzen die Straßen,
einziger Gesang, Mädchen mit klebrigem Zucker in Händen,
–Sacharina originale sechs a marek–
Kinderscharen, gelbverwitterte Gesichter in Falten,
Menschen schlürfen ihre Wassersuppe, drängen zur Austeilung,
wer fällt bleibt liegen, wir haben keine Zeit, der Hunger treibt
und der Tod wartet, jeden Tag brechen Dutzend von uns
auf den Straßen zusammen, liegen dort angekleidet, frieren
und junge Frauen mit Wasserbäuchen staksen über sie hinweg,
wer wird künftig einmal glauben, daß Wissenschaftler,
Fabrikanten, Künstler um einer Kartoffel willen sich schlugen,
weinten, neideten, revoltierten, während ihre Kollegen
draußen in der verschwiegenen Welt jenseits des Drahtes
geblendet waren von Macht, Schwertern, Aufmärschen, Medaillen,
wir sind Bettler, Aussätzige, Ausgeworfene, Tagediebe,
Menschen ohne Musik, ohne Erde, ohne Bett, ohne Welt,
kommt her, Menschen von drüben, wo Alltag und Feiertag
abwechseln, wo es Traum und Willen und Widerstand gibt,
welchen Tag haben wir heute, niemand weiß, man streitet,
Dienstag vielleicht, wie gleichgültig – Ihr heißt Warschafsky,
ihr eßt vom Kind die Suppe? Ich Suppe, zwei Löffel,
das Kind hat… Alter Fresser, noch leugnen, man hat mir hinterbracht,
ab morgen kleinere Portionen zu Gunsten des Kindes,
oh mein Gott, nur nicht Gott anrufen, er hat das nicht gern,
wegen zwei Löffel Suppe, ob ihr gebackene Tauben eßt
oder harte Steine, ich kümmere mich nicht darum, mir,
krankem Menschen, krank sind wir alle, bessert euch, rohe Gesellen,
rohe Gesellen, mir senen alle Juden, nobler Mensch,
fühlt sich wie ein Baron unter uns, wie soll der Messias kommen,
wenn ihr so schlecht und niedrig seid, was ist, seid ihr unser Rabbi,
gebt mir ein Messer, daß ich hereinsteche, hereinsteche –
ligt men azoy un di eyme iz groys, herndik skripn a tir,
tsitert dos harts ven fun hunger a moyz grizshet a shtikl papir,
die Jeschuje muß kommen mehero bejomenu, sonst zu spät.
Während in früheren Zeiten Geschlecht nach Geschlecht dahinging,
jetzt der Sohn vor dem Vater, Enkel vor Großvater
und Chaos in den Gemütern, kein Wachstum, ruckweise
geht alles zugrunde, Todeszeichen ohne Unterlaß,
Feuer aus Latten, Fensterrahmen, Balken, Dachpappe,
öde Straßen, die Häuser sind in die Öfen gewandert,
Feuchtigkeit kriecht durch Fenster, Wände und Dachböden,
das Zimmer von Kristallen gewölbt, unablässig Wasserrinnen
unter den Betten, Papier zerfällt, Holz zerdehnt, Kleider,
Decken, Matratzen schimmeln, Lebensmittel faulen,
Schränke biegen sich, Dinge und Räume, umgeformt, unbekannt,
Menschen verschwinden in verfaulten Alptraumtüren die nicht schließen,
Menschen über die Gasse und die Beine wie hölzerne Stangen,
stürzen sich auf unkenntlich verfaulte Kartoffeln,
Wintergesichter, mumiengelbe Häute, zitternde Kinder,
greisenfaltig mit Säcken auf Kopf und Rücken gegen Regen,
tausende klappernder Holzschuhe, umgehende Leichen
unter einem unirdisch nahen und gewaltigen Mond,
bauen nicht Getreide, haben nicht Vieh, nicht Geflügel,
nicht Fisch, nicht Milch, keinen Stoff, kein Leder, kein Metall,
wenn der Anzug zerfällt, mußt du in Lumpen gehen,
wenn die Schuhe zerreißen, kannst du sie mit Fetzen umhüllen,
Riegel verrosten, Farben verbleichen, Dinge zerbrechen,
die Menschen stolpern und hinken durch Urinrinnenstraßen,
Rücken gebogen, Bauch geschwollen, Schläfen eingefallen,
schlotternde Beine, keiner antwortet auf Anruf oder Frage,
Gettostimmung, Seelentaubheit, Gemütsverhärtung, Zeitfremdheit,
seelisch ganz vernichtet träumen die Menschen, zuerst vom Liebsten,
dann von Brot und schließlich von einer Handvoll Kartoffelschalen,
bis zum Verblassen des Gedächtnisses, sich nicht erinnern können
der Dinge, eben gehört, der Namen, gerade gelesen,
Ohrensausen, Augenflimmern, erinnere dich, vergebens,
angebunden sind wir an den Hunger, eine ganze Stadt,
Jahr um Jahr, Zustand der kosmisch bedingt scheinen will
und ist doch angetan den Menschen von anderen Menschen,
Hunger und sinnlose Arbeit zugleich brechen die stärkste Seele,
wer kann glauben, es wäre einst eine Wohnung gewesen,
mit Zimmern, Bad, Möbeln, da er aus- und eingehen konnte
und kochen und essen wie ein Mensch, ein Traum, längst vergessener Traum –
Wenn Er uns in Mizrajim gelassen hätte, in Cairo
würden wir sitzen in einem Hotel und türkischen Café trinken,
wären wir geblieben in Mizrajim, wir hätten nicht empfangen
die Tora, was haben wir denn gehabt von der Tora,
nur Leiden, Verfolgungen, ohne Tora kein Leben,
habe mich nie gekümmert um Fleischtöpfe von Ägypten,
Hunger, hungert man, Schläge, wird man geschlagen, wir sind
nun einmal das Am S‘gulo, wir sind auserkoren,
und wenn es heißt kämpfen, nun so werden wir kämpfen,
womit denn kämpfen, mit den Bündeln, mit den schwachen Armen,
die Frevler wird Er strafen, oh daß sie das Ende bedächten,
wozu diese Reden, werden sie es bedenken, zu spät vielleicht,
inzwischen sind wir alle gegangen auskleiden die Beiner –
shtarbt op an eyver ven s‘trogt zikh arum in hoyf mit papirlekh der vint,
gezegnt men zikh, on shum loshn, vi shtum, mit mames, mit vayb un mit kind.
Schmerzen in Zehen und Nägeln, im Steißbein, vor Magerkeit
unfähig zu sitzen, fühle ich die Jahrtausende an mir
vorüberrauschen, Herz voller Narben, Hirn überzogen
mit einer blätternden Kruste fehlgeschlagener Hoffnungen,
träume ich nicht mehr Gebirge, schwarzblaue Wälder und Wiesen,
träume ich erstickende Nacht, keuchenden Morgen
dich, dich allein Henuschi, wo weinst, lachst, lachst du,
und wüßtest mir vom Atem zurückzugeben die Jahre,
wird es für uns ein Wiedersehen geben fern dieser Stiegen,
glitschig von gelbem Auswurf, dieser tiefdunklen Treppen,
darauf Skelette zusammenstoßen, dieser grauweißen Gassen
wo Suppe getrunken wird, Kaffee gegessen und Tee geraucht,
hinter zerbrochenen Scheiben im Stubendunkel Sterbende liegen
in zerbrochenen Betten, Kissen und Decken wanzenblutfleckig,
Mund voller Fliegen, neben den Mädchen an Nähmaschinen,
jeder Stich Fluch und Träne ins Tuch der Peiniger,
Polizei Säuglinge wirft aus Fenstern auf Pferdewagen,
Mütter brüllen wie verwundete Tiere, Menschen verschwinden
in verfaulten Türen, Gerüchte rinnen auf Wasser durchs Zimmer,
Juden kommen, entkleidet in großem Gebäude, geschieht euch nichts,
nur gebadet, Reinigung, Entlausung, schiefe feuchte Ebene,
kommen ins Rutschen, gleiten hinab, eine Art Bassin,
Dampf, Hitze, Ersticken, fürchterliche Schreie, tot,
–Sacharina originale sechs a marek–
viele Schrecknisse gerieten in Vergessenheit,
viele Schrecknisse blieben zeugenlos in begrabenen Augen,
viele Schrecknisse fanden nur Ungläubigkeit, diese aber
sollen in Erinnerung bleiben und ich vergrabe mein Zeugnis
künftigen Menschen, dir, Henuschi, in einer Milchkanne im Hof
und bete gegen das Ende um Erlösung und Vergeltung
–Sacharina originale sechs a marek– Nekome!
Nekome far undzere laydn un payn,
Henuschi