Steffen Mensching
Eine Episode der ostdeutschen Literaturgeschichte
An einem Vormittag im Frühjahr Neunzehn-
Hundertzweiundachtzig bemerkte der Dichter
Heiner Müller einen deutlichen Verlust
Der Perspektive, als er, in seinem Arbeitszimmer
Im 14. Stock des Hochhauses am Tierpark
In Ost-Berlin sitzend, die Türme der Karl-Marx-Allee
Am Horizont nicht mehr erkannte. Entweder,
Dachte er, sind es die Augen, der Smog
Oder die Fenster. Er prüfte seine Brillen, er besaß
Dutzende, die er immer verlegte, konnte aber
Keine erhöhte Sehschwäche feststellen.
Die Luftverschmutzung schien ihm nicht
Schlimmer als gewöhnlich, auch hatte weder
DIE STIMME DER DDR noch der RIAS
Warnmeldungen versendet, folglich mussten
Die Scheiben, die ungeputzt waren
Seit seinem Einzug vor drei Jahren, die Ursache
Des Übels sein. Also beschloss er selbst
Hand anzulegen und holte zu diesem Zweck einen Eimer
Warmwasser und eine alte Unterhose als Lappen.
In dem Moment, als er, im offenen Fenster
Die kleine Trittleiter bestieg, die ihm diente
Ungeliebte Bücher in die obersten Fächer
Der Regale zu verbannen, lief, vierzig Meter
Unter ihm, der Nachwuchsautor Peter
Brasch, von der U-Bahn kommend, ein Manuskript
Unterm Arm und eine Flasche Whisky
In der Tüte, über den Platz, sah blinzelnd
Zum Himmel und entdeckte den Meister
Sprungbereit auf dem Sims, Jessenin,
Majakowski, Pavese und Kleist fielen ihm ein,
Er fuchtelte wild mit den Armen und warf
Seine schwarze Lederjacke als Warnsignal
In die Luft, um auf sich und seine Ankunft
Aufmerksam zu machen, schrie NEIN
Und weiter: TUS NICHT, HEINER, DIE WELT
BRAUCHT DICH, zugegeben ein pathetisches Wort
Für einen Märzvormittag in Berlin-Lichtenberg
Im Jahr Neunzehnhundertzweiundachtzig.
Braschs gut gemeinter Ruf war so laut
Wie verzweifelt, Bären in den Freigehegen
Am Tierparkeingang, gerade erwacht
Aus dem Winterschlaf, verkrochen sich knurrend
In ihre künstlichen Höhlen, Kassiererinnen
Der nahe gelegenen Konsum-Kaufhalle stürzten
In Kittelschürzen aus DEDERON
Vor die Tür und unterstützten den Dichter
In seinem Appell, auch Rentner
Und Kinder traten hinzu und schrien, was
Sie zu schreien gewohnt waren: DRUSCHBA-
FREUNDSCHAFT, so dass der Dramatiker
In lichter Höhe, mit dem Schlüpfer
Schmierige Scheiben reibend, schließlich
Und endlich den Auflauf am Boden bemerkte
Und entschied, die Säuberung auszusetzen, wer
So lange wie er auf Durchblick
Verzichtet hatte, könnte getrost
Noch einige Tage länger ohne Aufklärung leben,
Er ging, den Kollegen in die Wohnung
Zu bitten, zum Fahrstuhlschacht und ertrug,
Nicht ohne ein Gefühl hitziger Fremdscham,
Dass der, den er als diabolischen Witzbold
Schätzte, an seiner Schulter zu weinen begann
Und ihm sagte, dass er ihn, wenn auch
Ohne libidöse Erwartung, liebe, ein Geständnis,
Das den Meister, entgegen seiner Gewohnheit,
Veranlasste, Braschs immerhin sechs Jahre
Gelagerte Flasche noch vor zwölf Uhr zu erbrechen.