I. Bewusstseinsstrom
Nach dem Mittagessen verweigern Binnenland und Meer die Vermählung.
Spucke stoppt den Zeremonienmeister des Liebesspiels, die Zeit hat sich überfressen, und auch der fürs Make-up zuständige Amor nimmt sich eine Auszeit.
Ein letztes Mal erheben die jungen Frauen die Gläser mit dem rosenroten Wein, als wollten sie mit dem Meterband der Zeit die Bundweite des Nordatlantiks messen.
Dies läuft auf die Vereitlung unserer Beziehung durch die Einheit von Zeit, Raum und Handlung hinaus. Kannst du mir von fern dein Ja geben?
Nach dem Mittagessen setzt der Bewusstseinsstrom der Verdauung ein und strömt die Muttersprache.
Die verwelkte, staubbedeckte Rose gibt sich als Almanachgerunzel aus. Doch tief im Innern nistet der Zahnschmerz des alten Europa. Der Pflüger pflügt, der Ährenleser liest die Ähren. Ab und an befällt einen Kleinbürger, gemixt aus Republik und Monarchie, an einer Straßenecke eine sentimentale Anwandlung: Er kritzelt ein Gedicht in die U-Bahn und wird verhaftet. Doch was spricht gegen universelle Preise? Statt in der Bildrolle der Welt nach dem Dolch des Oktobers zu suchen, lese man lieber einen alten Comic, der wie ein Blätterregen auf dem bleiernen Fluss niedergeht.
Die gepflegte Schwermut, die man solcherart kultiviert, beschwert Wind und Regen, Flora und Fauna.
Der Müllsammler hat soeben sein einsames Mahl beendet.
III. Gedicht von der Landarbeit
Acker und Nebel schmiegen sich aneinander.
Die auswärtige Landwirtschaft hat sich beruhigt. Als hätte das Universum einen tiefen Atemzug getan, als hätten der Winzer und der Tagelöhner die ganze Nacht mit Reden zugebracht und säßen noch immer beieinander.
Ein kleinstädtischer Vergnügungspark, ein altes Windrad, eine Vogelscheuche.
Einsamkeit. Unter der Erde tost das Meer. Trübe Wellenkämme auf dem Weinberg, Schaum bei Ebbe auf dem Friedhof.
Einsamkeit. Auch das Gedichteschreiben bringt keine Besserung. Im Nebel spüre ich dich nicht. Na und?
Aber Gedicht und Einsamkeit bringen einander nicht zur Gärung. Sie schmiegen sich nur aneinander.
Auf dem Brachland kaut das Vieh entlang dem fransigen Rand des Nebels das bruchlose Nebeneinander von Gedicht und Einsamkeit wieder. Na und wenn schon. Der Dunst wird dichter. Ich spüre dich nicht. Na und wenn schon.
IV. Neues Volkslied
Das Gedränge der Grabsteine fegt den Himmel schwarz. Die chinesische Sprache begibt sich auf zaghafte Balz. Und jedesmal wieder komme ich nicht umhin zu fragen: Wie vielen rastlosen Geistern vermag ein Gedicht die Parade abzunehmen?
(Der allwöchentliche Kirchgang des Modellarbeiters von Sodom / Ein Bettler, der von seinem Kreuzworträtsel aufblickt / Ein Plastikmensch / Ein Winzer und ein Tagelöhner / Die fabelhafte Amélie, die gerade Feierabend gemacht hat und nun dahineilt, während ihre Haut allmählich zu alter Schwärze genest / Madame Mao und ihr Ballettensemble / Die Arbeiter und Bauern / Vier Straßenmusiker, die, reglos vor Müdigkeit, Seite an Seite auf einer Bank sitzen. Zwei von ihnen spielen Akkordeon, ein Dritter stimmt eine Trompete. Sie haben gewiss genauso einen Hexenschuss wie ich / Ein Schafskäsesenner, der den Kaiser gekrönt hat / Eine vermummte Hure / Jane Fonda, die in der Nähe von Ho Chi Minhs altem Domizil wohnt / Meine schmollende Verehrerin / Ein Sprachgenie, das eine Stripteasewerbung annonciert / Ein Polizist, der mich am linken Ufer stehenbleiben heißt / Ein Polizist, der mich am rechten Ufer schneller gehen heißt / Ein Jude, der sich „Die Judenfrage“ kauft / Der Hunger der Kommune / Ein erfolgreich verschlankter Besitzender / Ein unehrlicher Finder, der bald freies Feld, bald weißes Papier überquert / Ein Facharbeiter, zuständig für den Austausch der Reklame in der U-Bahn, in der Hand seinen Kleber)
Das heißt: Wie vielen Feinden der Epoche vermag ein Gedicht die Parade abzunehmen? Wenigstens zerstreut es, durchaus prosaisch, den unmerklichen Regen, der lange in der Luft liegt wie vor einem Heulkrampf die Nässe in den Augen.
Es ist an der Zeit, ihnen die Parade abzunehmen. Denn der Himmel ist schon schwarz gefegt. Es ist an der Zeit, ihnen die Parade abzunehmen, Zeit, mit ihnen eins zu werden. Denn zwischen den Straßenlaternen, in der Finsternis vor den Augen des Volks, wird die Erinnerung wach an ein fremdes Gesicht, das nur ein Blitz erhellen kann.
Lauernde Schemen in einer Mauernische auf dem Friedhof Père Lachaise. Hungrig sind sie. Sie mischen sich unter die Menge und schlendern zum Montmartre.
(Doch nein: Nach ihrer Häutung entblößt die fabelhafte Amélie auf der linken Wange die lange Narbe von Algier.)
Auf dem Friedhof von Montmartre tut sich eine tiefrote Vagina auf. Eine Clique junger Männer erhebt sich nach langem Herumgegammel und klopft sich den Schmutz von den Kleidern, als überschlügen sie die Zeit ihres Wartens.
Beim Überqueren all der Geheimnisse, die auf der Straße kursieren, geben sie sich ungerührt. Wortlos fällt einer von ihnen hinter die anderen zurück. Als ein Allerweltsgesicht mit seinem Handy erlischt, scharen sich alle zusammen und teilen tuschelnd den Duft ihres mauritischen Schweißes.
Während ein Mann, der Stripteasewerbung annonciert, ein Dutzend Sprachen zugleich spricht, bleibt ein Arbeiter, der Reklame anklebt, nach Feierabend vor einer Theke mit Sexspielzeug stehen. Die Bürste am linken Bein, den Eimer mit Kleber in der rechten Hand, so kommt er Tag für Tag durch unzählige U-Bahn-Stationen. Beim Anbringen der neuesten Reklame mustert er flüchtig die diffuse Logik: Zeit, Ort, Attraktion und Preis sind so unumschränkt wahr wie ein Kalender. Teilnahmslos streckt er in diesem Moment die Hand aus, als wollte er seine professionellen Bewegungen wiederholen und hätte zugleich irrigerweise von einem Etikett die selbstvergessene Schönheit des Abends abgelesen.
Womöglich gibt sein in der Luft erstarrter Arm das geheime Zeichen zur Abnahme der Parade. Oder womöglich ist er ein Blitz, der das verborgene Signal zur Balz mit der Epoche sendet.
Ein Sportjournalist der achtziger Jahre übersetzt: „In voller Bewaffnung verlässt Blanqui sein Zuhause. Nachdem er Abschied von seinen Schwestern genommen hat, trifft er am Ort der Truppenschau ein, der Avenue des Champs-Élysées. Wie mit Granger vereinbart, werden die Truppen, die unter dem unergründlichen Oberkommando von Blanqui stehen, hier an ihm vorbeiparadieren. Ihre Anführer kennt er; jetzt brennt er darauf, die Männer, die im Stechschritt hinter ihnen marschieren, an sich vorbeischreiten zu sehen. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, nimmt Blanqui die Parade ab. An einen Baum gelehnt steht der alte Mann in der Menge, die wie er dieses außergewöhnliche Schauspiel verfolgt. Mit großer Aufmerksamkeit beobachtet er seine Freunde, wie sie, still bis auf ein wenig Geflüster, voranrücken, übertönt vom fortwährenden Jubel.“
Schweigend wogen von den beiden Straßenecken die zwei Truppen der Toten heran und reichen sich die Hände vor der zwischen den beiden Friedhöfen gelegenen Basilika Sacré-Cœur. Wie vielen heimlichen Gedichtliebhabern vermag ein Gedicht hier und jetzt die Parade abzunehmen?
Das hängt von der endlosen Vorbereitung ab, die nachträglich beginnt.
Am Fuß der Treppe zögern sie. Wenn jede Stufe ein Vers ist, führt diese Treppe nicht zur Untergrundpartei der Toten. Entsprechend erkennen sie, als sie aufblicken, auch nicht die Berge von Jinggang.
Sie vereinen sich, als wären sie ein Mann, ein selbstloses Selbst.
Ein außerordentlicher Professor, der am Volksgericht ein- und ausgeht, ermuntert mich, „tiefe Freundschaft zu suchen im resonierenden Selbst“.
Wenn die chinesische Sprache sich das nächste Mal auf Balz begibt, kauf ihr nicht wieder ein Sexspielzeug.
Gewiss haben sie nichts mit mir zu tun.
All dies prachtvolle „Nichts-miteinander-zu-tun-Haben“ drängt mich, die Wahrheit zu schreiben; wehrlos signiere ich das Preisschild.
Die Wahrheit schreibt sich selbst – auf Geldscheinen und Telefonkarten, auf Quittungen und Klopapierrollen, auf abgelaufenen Kreditkarten und streng nach Arbeitsrecht entworfenen Verträgen, in den rissigen Ölfarben der Gemälde in den Galerien, in Browsern, auf allerlei wettergegerbten Händen und auch in der Handfläche, die sacht schwitzend einen Schlüssel umklammert; in unser beider Gesichter, die dem unmerklichen Regen gleichen. Mit den gewöhnlichsten Worten ruft die Wahrheit zu tiefer Freundschaft auf.
Doch das erfordert, dass wir alle Routine fallenlassen, wenn wir einander in nächster Nähe vergessen. Und es erfordert, dass du, wenn Liebe und Hass dich erfüllen, den Bogen in die Kammer meines Herzens führst.
Jeder ihrer Verse will mich rekrutieren. Gedichte schreiben heißt: sein Leben ordnen. Doch das ist bei Weitem nicht genug.
Vereinzelt bleiben Leute auf der Ringstraße stehen.
Auf der Straßenseite gegenüber wechseln unterdessen ein paar Leiharbeiter flink die Tafeln mit der Neonreklame. In hellem Licht erstrahlen sie wie nächtliche Boten; seitdem man ihnen die lesenden Augen ausgegraben hat, haben sie gegenüber Kalendern, die mit Dekolletés prangen, eine strikte Blindheit kultiviert.
Als die alte Reklame entfernt ist, werden auch die Leute, die auf der anderen Straßenseite vorüberparadieren, in grelles Licht getaucht. Gedankenlos betrachten sie die Werbung. Als brächte ihnen jede neue Reklame eine neue Losung.
Um ein Gedicht zu schreiben, muss ich bedrängt sein von der unendlichen Gegenwart der Dinge.
Jedes Gedicht rekrutiert seinen Dichter. Doch das ist bei Weitem nicht genug.
Erste Fassung 2008/09, Paris, New York und Peking
2011 und 2012 überarbeitet