Uwe Kolbe

alemán

Uwe Kolbe

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Der Essigbaum

Wahrscheinlich wars langer Weile geschuldet, daß ich ihn wahrnahm.
   Wir warteten wieder einmal - Bahnhof Schönhauser Allee –
Auf einen Zug am Nordring, an dessen verbliebener Hälfte.
   S-Bahn in Rostrot und Gelb, zischend kam sie zum Stehn,
setzte ich mich an das Fenster, um aus der Nähe zu schauen:
   trieb doch dort einer aus sich, aus einem dürren Nichts
tatsächlich richtige Blätter. Ich fragte, was das sei, den Vater:
   ´n Essigbaum, und der treibt Zweige und Blätter neu.
Ich darauf: An dieser Stelle kann er doch nicht überleben!
   Siehste doch, dieser Kerl ist so bescheiden, es geht.

Licht gab es keins da, jedenfalls nicht zu gewöhnlichen Zeiten,
   die wir hier warteten, ich neuerdings fasziniert
von diesem Kerl, besser –chen, der sich wacker das Leben ertrotzte.
   Sein zarter Stamm lehnte fast an der Stromschiene vorn,
hinter ihm ragte und lud jedesmal zum kindlichen Tagtraum
   eine düstere Stützmauer, zu Bögen gewölbt.
Dort, wo die Bögen sich voneinander trennten, ein Luftloch,
   sagte jedenfalls ich, je als kleineres Kreuz,
ausgespart für nicht erkennbaren Zweck, wozu die Belüftung?
   Einfach zur Zierde vielleicht. So hat das Kind nicht gedacht.

Seine Vision galt den Kellern dort, wo seit Kriegsende Gras wuchs,
   und es sprach neuerdings mit seinem Freunde, dem Baum,
der keiner werden konnte, weil alle S-Bahnen täglich
   in dem Minutentakt mit ihrem Fahrtwind an ihm
zerrten, und es alle Kraft galt, die Blätter zu halten, sonst gar nichts.
   Leise, versteht sich, sprach ich mit dem beinahe Baum.
Er war mein Vorbild, auch wenn ich seinen Namen nie nannte.
   Selten, doch wenn ich dorthin gehe und nach ihm schau,
ist es ein Spiel, die Augen verbunden, mit Schwindelgefühlen,
    obwohl ich die Regeln weiß, weil ich erwachsen bin.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001
De: Die Farben des Wassers. Gedichte
Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag , 2001
ISBN: 3-518-41262-0
Producción de Audio: 2001 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

[Tupfen Bleiweiß von der]

Tupfen Bleiweiß von der
Chora am Felsen,
steile zerklüftete Klippen, Ziege
an Ziege, Hörner und Ohren,
gespitzte, der lauthalsen Esel,
Zeus ist erzürnt, böige
Winde, geblähte
hohe Segel, gut vertäute,
wie versprengt der fernen Kirchlein Nischen,
da schnellt auf und hetzt davon der gelbe Hund.

Nachdichtung: Uwe Kolbe

© Uwe Kolbe 2001