Orihime

© Gozo Yoshimasu
De: Oshirisu, Ishi no Kami
Tokyo: Icho-sha, 1984
Producción de Audio: 2002 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

Orihime

Teru-san! Teru-san!
Am Ende eines Tages mit heftigem Herbstregen (wohl Vorbote eines Taifuns) stieg
ich, wie von Rufen aus den Tiefen der Berge gelockt, in die Chûô-Linie. Mein
zweites Ich trat mit einem Fuß auf die Bremse und brachte durch die Gegenbewegung
den Waggon ins Schlingern.
Ein schwärzlicher Schatten. Vor gut zehn Stunden hatte man mir am Ausgang der U-Bahn
ein Flugblatt "Bergwerk YÛBARI überlebt!" in die Hand gedrückt. Das Wanken der
beiden Bergleute (tatsächlich!) an den Seiten des Ausgangs, ihre Körper, all das war
mir noch gegenwärtig und (die Zeit) kam in Fluß.
Gelockt von Rufen aus den Tiefen der Berge, der Herbstregen war heftig.
Von der Wasserscheide in diesen Tiefen kamen die Rufe des DAIBOSATSU-Passes.
Ich lief durch den Regen, stellte mir die Form eines Berges vor, den es in diesem
Universum nicht gibt. Die Regentropfen schlugen wie kleine Kiesel an meine
Kapuze, und ich nahm die Form des nicht existierenden Berges an.
Die Form des Berges, Regen, der an die Kapuze (meines dünnen Blousons) schlägt.
Die beiden kleinen Kiesel in meiner Tasche. So stieg ich an der Station
ISHIGAMIMAE aus und lief (angezogen vom Geräusch der Flußströmung) bis zur
Mitte – der HIKARI-Brücke, der Brücke des Lichts?

Brücke
, des Lichts

Ich blickte durch die matte Beleuchtung – der Brücke der Phantom-Ringe
(KUMONBASHI) – und überquerte den (Fußgänger-) Überweg. Jemand warf seinen
ganzen Körper auf die Hilfsbremse. Ein anderer trat zweimal (dagegen). Die beiden
YÛBARI-Männer, die am Stolleneingang des Bergwerks standen, zeichneten
verschwommen eine Schleife in die Luft.
Näherte sich um diese Zeit das Schaffnerabteil des Zugs aus Richtung TÔKYÔ der
Station ÔME, durchtränkt von Blumenfarben?
Der Berg webt.
Ich strecke die Arme aus, und das Brückengeländer (der KUMONBASHI) berührt
meine Hände. Von ISHIGAMIMAE (einem Bahnhof ohne Personal) gehe ich,
angelockt von der Flußströmung, in den heftigen Regen, über die HIKARI-Brücke
stromauf, über die KUMONBASHI stromab – und schaue in die Tiefe. Stimme des
Lichts.
In der Mitte blieb ich stehen – warum weiß ich nicht – und weil mich niemand sah,
hüpfte ich einige Male. Ich zaubere die undeutliche Form des nicht existierenden
Berges hundert Meter weiter unten hervor – Regen, der an meine Kapuze schlägt.
Heftiger Herbstregen.
Der Berg webt.
An der Station ISHIGAMIMAE stand ein Briefkasten (Abrechnungskasten). Der
unbesetzte Bahnhof war naß vom Herbstregen. Vor langer Zeit befand er sich
inmitten des Geruchs einiger Hundert Tonnen Kalk, mit blauen Blumen, auch
Muscheln und Fischfossilien, und die ÔME-Linie lief ganz allmählich bergab.
Zwei Bänke waren übriggeblieben. Ich ging zur nächsten Station, FUTAMATAO,
besorgte mir ein Dosenbier, saß dann vierzig oder fünfzig Minuten auf einer dieser
Bänke und dachte nach. Damals verstand ich nichts.

ISHIGAMIMAE, einst ein Rastplatz am Fuß eines dunklen Berges.
Teru-san! Teru-san!

Teru-san! Teru-san!
Ein Ruf aus den Tiefen der Berge, vielleicht von der roten Mauer widerhallend. Die
Stimme der Weberprinzessin, wie ich sie im Gedächtnis habe (Teruko-san?).
FUTAMATAO...Heißt das nicht "Gegabelter Schweif"?
Letzte Nacht war ich zweimal Güterzügen begegnet.
War das eben ein Güterzug? Wer war da vorbeigekommen, mit einem Schirm?
Jemand, der seinem Fernweh folgte und mit einem Schirm an den Gleisen stand.
Warum sind wir schließlich zusammen eingestiegen. (Shimoyama-san?) Es gab eine
Holzbank, an einer Seite ein Steilhang, ISHIGAMIMAE war wie ein Arbeitszimmer.
Dann kam der nächste "Hikari" (Zug), Richtung TÔKYÔ, und in den lockte man
mich hinein. An der nächsten Tür sah ich drei Mädchen einsteigen und hätte sofort
wissen müssen, daß ISHIGAMIMAE ruhiger werden würde, wenn diese Mädchen die
Station verlassen. Aber ich wurde verleitet und bestieg den "Hikari" in Richtung
TÔKYÔ.
Die drei Mädchen, wohl Erstkläßler am Gymnasium, lösten sich im Licht des Abteils
auf.
Ein Förderwagen?
Der Laut von Kieseln im Gleisbett. Mehrere Male hob ich den Blick zu den von
Wasser durchtränkten Röcken.
Ein Förderwagen,
Ein "Truck"?
Teru-san! Teru-san!


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Anmerkung des Übersetzers Bernd Riessland zu Orihime:
"Orihime" könnte mit "Weberin" oder "Weberprinzessin" übersetzt werden. Sie ist eine
Schlüsselfigur des Tanabata-Festes (Sternenfest), das am 7. Juli gefeiert wird. Dann
treffen sich am Himmel zwei Sterne (Altair und Wega), die normalerweise durch die
Milchstraße voneinander getrennt sind. Das Fest geht auf eine chinesische Legende
zurück: Orihime, die Tochter des Himmelsherrn (Tentei) lebte östlich der Milchstraße
und verbrachte ihre Zeit mit dem Weben von Stoffen. Tentei bestimmte einen Hirten
(Kengyû) von der anderen Seite der Galaxis zu ihrem Gatten. Über ihre Liebe vergaß
Orihime dann ihre Arbeit, das Weben. Ihr Vater bestrafte sie dafür, und sie durfte ihren
Geliebten fortan nur einmal im Jahr, in der 7. Nacht des 7. Monats, sehen. Dann breitete
ein Rabe seine Flügel über die Milchstraße, damit sie sich treffen konnten.

Aus dem Japanischen von Bernd Riessland mit Dank an Tomoko Blech