Ulrich Koch
SCHLAFLIED
Behalte die gelöschten Alleen im Auge und vertraue
jedem, der anderes behauptet. Und dem im Nebel
auf der Stelle tretenden Bus, seiner Schönheit,
seiner Lichtzeile, deinem Namen auf dem Röntgenbild
des Gegenlichts (zwei Frauen tragen einen Spiegel herein)
und, auf seine Erscheinung abgemagert,
jedem Gegenstand,
und den Alleen, den abgefackelten,
den schulterlangen, schwärmenden, heimlichen Alleen,
die ihre Schlafsäcke ausrollen
vor den Vorverkaufsstellen.
Wo sind sie so lange gewesen?
Wir hätten ihre Väter sein können.
Der Schönheit des unsichtbaren Fuchses vertraue,
jener des auf den Weiden ertrunkenen Viehs.
Vertraue der Schönheit, ihrer Gretchenantwort.
Baumwollfelder Schlaf, Vaters verblühte Faust.
Und in der Küche sollst du sitzen,
wo dich der Tisch aufißt, schön,
unter den Sternen, die flüstern,
bis sie sich zurückziehen in die Platanenschatten
und Kantaten.
Drum lebe wie die Schnecken,
in denen es immer Null Uhr ist: eine Schrift vor,
eine Schrift zurück. Lebe wie die Berge duften. Lebe
wie die Geweihe träumen, wie die giftigen Beeren schmecken,
wie Tulpenduft, wie Bosporus, wie die Böcke singen.
Du sollst den Schall durchbrechen, mit Honig abgerieben.
Unter verstaubten Rauchmeldern sollst du leben, sie locken
und häuten und retten und keine Gedichte mehr schreiben,
nur fressen, atmen, Dunkel trinken, und dir Gott auf der Harfe dir
danke mein Gott.
Und danke dem Sagen. Danke den Asseln
auf der Rückseite der Gedanken. Danke dem farblosen Licht
in den Planungsbüros.
Danke den Pferden,
sie atmen wie Mehl.
Danke den Lerchen, ausgestopft mit sich selbst,
und den Kirchgängern, ausgestopft mit Lerchen.
Vertraue der Schönheit der Blasphemie und der Schönheit der Toten,
wie sie rauschen. Hinter ihnen fließen die Züge zusammen.
Schönheit der Geköpften, Schönheit des Tertiärs.
Schönheit der Komatösen, die wir auf ihren Schatten lagern,
von der Stille intubiert, warm und verklärt.
Schönheit der Masturbierenden und Gebärenden,
der Gebärdensprache, der Geparden und Parzen.
Schönheit der Amseln,
sie kommen als Scherenschnitt zur Welt.
Festseele,
hell erleuchtet.
Schönheit der Frauen, die schlafen,
die Wälder dehnen sich aus in ihnen,
während sie mit offenem Mund ein-,
ausatmen, bis das Gedächtnis abgetrocknet ist,
es ist ein einziges Rauschen.
Du stehst hinter ihren Augen
wie am Fenster und schaust
ins Dunkel nach draußen.
Ihre Brüste fühlen sich von hier aus an
wie die Handschuhe eines Kindes,
das aus der Kälte hereinkommt vom Spielen.
Groß gewordene Bäume, es braucht drei,
Hand in Hand, um den Stamm zu erfassen.
Manchmal sprechen sie im Schlaf,
Unverständliches, dann beschriften sie die Sprache
oder haben sich verkleidet,
koreanische Apnoetaucherinnen, die vor Jeju
nach den Tränen ihrer Töchter tauchen.
Drehen sie sich auf die Seite, lehnen sie eine Kinderzimmertür an.
Am Morgen ist ihr Haar aus der Asche von Mentholzigaretten.
Die Luft duftet nach Sägemehl. Siehst du ihre Füße?
Sie haben sich an Land geschleppt, um es zu wecken.
Gäbe es keine Blumen, blieben sie am Leben.
Oh Schönheit,
Schönheit des Fliesenlegers beim Freitagsgebet
am Montagmorgen
im Neubaugebiet
und des rauchenden Fernmeldetechnikers,
der mit einem Bündel Kabel vor einem Bienenkasten kniet.
Schönheit der Armenfriedhöfe und Reitervölker.
Schönheit der Mütter, sie steigt ihnen voraus.
Schönheit der Männer, die lesen,
als schliefen sie mit offenen Augen.
Schönheit der Ungefickten.
Schönheit der Prothesen
und der ausgestorbenen Tiere.
Schönheit der Hemiplegiker,
wenn sie abends auf der Dorfstraße
die taube Seite ins Gegenlicht heben.
Auch so Hälften des Lebens.
Schönheit der unter Deck erstickten
Blinden Passagiere.
Schönheit der Dorfschönheiten,
nach ihnen die Uhren stelle,
die Restzeit beackernd.
Schönheit der Gesäugten,
wenn sie mittags schlafen,
die Schläfen grau, der schnelle Puls
unter der Fontanelle:
das Grablicht, flackernd.
Schönheit der Ungezeugten,
ohne Papiere, Gepäck.
Schönheit, noch größere,
der Ungewollten.