Evgeny Kissin (Евге́ний Ки́син)

Einst pflegte Mame-Loschen fast überall zu erklingen.
Aus den Gettos erreichte es die Zentren der großen Metropolen.
Noch ehe in Russland der jüdische Ansiedlungsrayon verschwand,
erschallte auf fünf Kontinenten sein saftiger Klang.
Auf den Champs-Elysées, Piccadilly, Arbat und auf dem Broadway
erfüllte damals Jiddisch schallend die Lüfte
mit seiner Anmut und Lebensfreude, mit seiner Würze, Weisheit und Weh.
mit dem starken Geschmack seines herben und süßen Dufts.
Auf Plätzen und Boulevards erschallte die jiddische Sprache.
Man hörte in Theatern und Cafés ihre heiße Stimme.
Auf großen Versammlungen war viel Jiddisch zu hören.
Sogar auf einigen Hochschulen konnte man in dieser Sprache studieren.
--- Und jetzt gibt es da eine Leerstelle …
Zurückgezogen hat sich Mame-Loschen
wieder in die Gettos von London, Antwerpen, New York
und Jerusalem, wie auch in das kleine B’nei Brak …
Wahrlich Besorgnis erregend für Jiddisch-Liebhaber. Die versammeln sich
auf kleinen Meetings, lernen dort, bemühen sich zu tun, was möglich ist,
auf dass der jetzige Wind wieder in die andere Richtung weht.
wenn doch schon wirklich das Schicksal des Jiddischen besiegelt scheint.
Ja, die jiddische Sprache soll wieder überall ertönen.
Das wünsche auch ich mir, danach sehnt sich meine Seele.
Im Kennedy Center habe ich schon eine Rede auf Jiddisch gehalten,
was ein Jude und ein Christ auch laut beklatscht haben.
Im kommenden Jahr werde ich das auch in der Carnegie Hall tun …
Aber nein, nicht nur das muss man tun, das reicht alles nicht.
Ich bin dazu bereit, stets laut auf Jiddisch zu sprechen –
auch zu schreien bin ich bereit, bis mir der Hals heiser wird …
Es fragt sich nur : zu wem? … Es scheint mir, ich könnte langsam
aber sicher ein bisschen meschugge werden … Und hilft es nicht manchmal,
meschugge zu sein? --- Mitternacht ist vorüber, und meine Fantasie
erhitzt sich immer mehr …
Still möchte ich auf die Straße hinaus, zum Triumph-Bogen hin –
und grade dort, unter ihm, mich hinstellen –
und drauf los zu schreien beginnen, auf Jiddisch, von dort,
unaufhörlich, ohne Ende – mit lauter Stimme,
dass hinschallt nachts mein Mame-Loschen über ganz Paris!
Nun, es regnet schon hinter dem Fenster, Zeit jetzt, schlafen zu gehen …
Bei Tag aber wird meine Fantasie sich auch erhitzen.
Erwacht in mir vielleicht bereits etwas ein Kind?
Kann sein, dass es so ist … Aber ich bin doch ein Künstler!
Anna und Yitskhok muss man zu einem Spaziergang einladen:
Auf den Champs-Elysées, dem Montmartre, neben Notre-Dame
werden wir laut Jiddisch sprechen – voller Lust und ohne Ende –
und sein Arom wird strahlend sich dort in der Luft zersirren!
Was noch? Nach Reykljavik flieg ich in Bälde für einige Tage –
hat man dort irgendwann auf Jiddisch überhaupt einmal gesprochen?
Ich erinnere mich aber, dass einst, ich war gerade fünfundzwanzig Jahre alt,
während meines Besuchs von Island
es folgende Art von Überraschung gab: Man fragte mich unvermittelt,
ob ich Jiddisch könne! Ja, es gab auch dort so eine gute Frau,
im Norden, an jenem fernen Rand,
wo traurig-tief die Wolken sind und grau …
Und diesmal werde ich von Island aus Boris anrufen:
von draußen, von einem Restaurant oder gleich von dem Saal aus,
wo ich auftreten werde, - damit auch in jener bewölkten Erdengegend
die Luft mit dem bunten Jiddisch-Strahl beleuchtet werde!
Solange ich am Leben bin, wird die jiddische Sprache Jahr für Jahr
aus meinem Munde klingen. – Doch was wird dann geschehen? …
Meine Liebe, schenke mir ein paar süße Kinder –
und möge ihre Leben beschienen werden von Jiddisch,
und mögen sie Jiddisch gut kennen und lieben,
und mögen sie ständig sich an seiner frischen Quelle nähren,
mit jiddischen Wiegenliedern einschlafen des Nachts
und mit „A gut morgn!“ die hellroten Sonnenstrahlen begrüßen
und sich spielen und Unfug treiben auf Jiddisch … Und vielleicht, wer weiß?,
wollen auch andere Kinder von ihnen
ein bisschen Jiddisch lernen – und dann soll es wieder heiß klingen
auf den Champs-Elysées, Piccadilly, Arbat und auf dem Broadway.
Dann werde ich ruhig sterben, weil ich Gewissheit habe,
dass meine Großmuttersprache auch nach mir noch lange lebt.
Und möge es auf meinem Grabe warm sein, gemütlich und hell
und der vertraute Jiddisch-Klang von dort erschallen.

Mame-loshn used to ring out almost everywhere.
From out of the ghetto, it reached the centers of the capital cities.
Even before the Pale of Settlement in Russia was abolished,
the juicy sounds of Yiddish resounded on five continents:
on the Champs-Elysees, Piccadilly, Arbat, and Broadway.
In those days, Yiddish used to fill the air resoundingly
with its charm and its liveliness, its juiciness, wisdom, and pain,
with the strong taste of its tart and sweet aroma.
The Yiddish language used to echo on squares and boulevards--
its voice was heard in theaters and cafes.
Yiddish was heard a lot at big meetings—
even some high-school classes were sometimes taught in it.
And now there’s a shortage of it.
Mame-loshn has returned to the ghettos
of London, Antwerp, New York, and Jerusalem,
as well as little B’nei Brak—
a real concern for Yiddish lovers.
They gather now at small meetings,
study, settle for doing what they can
so the current wind might change in direction,
since the fate of Yiddish really is at stake.
Yes, the Yiddish language should ring out again everywhere!
That’s what I want too, my soul longs for that.
I’ve spoken in Yiddish at Kennedy Center already,
and it was rated highly by both a Jew and a Gentile.
I’ll do the same next year in Carnegie Hall.
But no! Not only that needs to be done—all of that is not enough.
I’m always ready to speak aloud in Yiddish
and to cry out that I’m ready till I get hoarse,
but one asks oneself: To whom? It seems to me that I’m probably getting
a little crazy… but sometimes craziness helps, after all.
It’s past midnight, and my imagination grows all the more heated.
I want to go out quietly into the street,
reach the Arch, and stand there, right under it,
and start to cry out in Yiddish from there,
to cry out loudly, endlessly, without limit
so mame-loshn will ring out at night all over Paris!
Well, it’s raining outside now, one has to go to sleep.
But even in the daytime, my imagination gets quite excited.
Is a bit of a child awakening in me perhaps?
That might even be true, but I’m an artist, after all!
I have to invite Anya and Itzhok* for a walk:
on the Champs-Elysees, in Montmartre, and near Notre-Dame
we will speak out loud in Yiddish, lustily and endlessly,
and its taste will sparkle and echo there.
What else? I’m soon flying to Reykjavik for a few days—
has anyone ever spoken Yiddish there at all?
I recall, however, when I was twenty-five years old,
during my first visit to Iceland,that a sort of surprise occurred:
I was suddenly asked, if I knew Yiddish!
Yes, there was such a nice lady there,
in the North, in a far-flung corner of the land,
where the clouds are sad and low and gray.
This time I’ll call Boris** from Iceland:
from outdoors, from a restaurant,
or right from the hall where I will perform -
even in that cloudy neighborhood
let the colorful sparkle of Yiddish illuminate the air!
As long as I live, the Yiddish language will ring out from my mouth,
year after year. But what will happen after that?
My love, have a couple of children for me -
and may their lives be illuminated by Yiddish.
May they know and love Yiddish a lot,
and may they draw nourishment forever from its fresh spring:
go to sleep at night with Yiddish cradle-songs,
greet the bright pink rays of morning with “A gut morgn!”,
play and make mischief in Yiddish... And perhaps, who knows? -
other little children will learn a bit of Yiddish from them -
and again it will ring out hotly
on the Champs-Elysees, Piccadilly, Arbat and Broadway!
Then I can die peacefully, for I will know for sure
that my bobe-loshn will live a long time after me.
And may my grave be warm, welcoming, and bright,
and may the intimate sound of Yiddish echo there.