Stefan Weidle
german
In The Kingdom of Poetry
Don’t write poems
about yourself.
Don’t call attention
to your revelations
or make confessions.
Even if your intention
is to expiate pain,
overcome guilt,
temper your
understandable anger,
don’t excavate
your mother’s grief,
brother’s sexual torment,
sister’s thievery,
father’s self-hatred,
step-parent’s fortuitous star chart.
Feelings are not poems.
Relatives should be left
where they are found,
in the gutter
or by a cash register.
Don’t write poems
about others.
Leave out husbands,
divorcees, alcoholics,
pimply adolescents and nurses.
There is already a surplus
of bad movie scripts.
Forget about friends
and enemies,
anniversaries
and special moments.
Someone in the greeting card business
has already covered these topics.
Don’t write about
what is happening in the world,
the missing child
and the human remains,
the burning beach
and the swallowed page,
the president’s
fiftieth speech.
Whatever happened there
isn’t a poem.
Don’t try and prove
how sensitive you are.
Others have already
claimed to be plants.
It isn’t necessary to demonstrate
how insensitive you are.
as this is already
an indisputable fact.
Don’t write poems
linking
an ordinary event
in your life
–shaving, adjusting your bra, riding subway
admiring especially picturesque sunset–
to a significant moment in history
–pogrom, starvation, exile, assassination–
or to a myth–rape, jealousy, or rejection–
in fact to anything that has a theme.
Poems are not papers
delivered at conferences.
Don’t sing about the joys of the city
or list the virtues of rural life.
Don’t mention swans,
bologna, eyeball dryness,
or one-eared philosophers.
Picnics and paintings are not poems.
Don’t resort to drama
or telling lies.
Don’t use your yearning
as a starting point.
Secrets should be left
where they are.
Don’t stand up
in a burning theater
and announce,
“no one listens to poetry.”
Don’t write poems
about poets
being underpaid.
Throw away
your memories,
bury your mirrors.
From: Paradiso Diaspora
Penguin, 2006
Audio production: LiteraturWERKstatt Berlin 2009
Im Reich der Poesie
Schreib keine Gedichte
über dich selbst.
Mach nicht aufmerksam
auf deine Offenbarungen
und lege keine Geständnisse ab.
Selbst wenn du vorhast,
Schmerzen zu sühnen,
Schuld zu überwinden,
mäßige deinen
verständlichen Zorn,
grabe nicht
den Kummer deiner Mutter aus,
die sexuellen Qualen deines Bruders,
die Diebstähle deiner Schwester,
den Selbsthaß deines Vaters,
das zufällige Geburtshoroskop eines Stiefelternteils.
Gefühle sind keine Gedichte.
Verwandte sollten da bleiben,
wo sie gefunden wurden,
in der Gosse
oder neben einer Registrierkasse.
Schreib keine Gedichte
über andere.
Laß die Ehemänner weg,
die Geschiedenen, Alkoholiker,
picklige Jugendliche und Krankenschwestern.
Es gibt schon einen Überfluß
an schlechten Filmdrehbüchern.
Vergiß die Freunde
und die Feinde,
Jubiläen
und besondere Momente.
Jemand aus der Glückwunschkartenbranche
hat diese Themen schon im Griff.
Schreib nicht darüber,
was in der Welt passiert,
über das vermißte Kind
und die menschlichen Überreste,
den brennenden Strand
und das verschluckte Blatt,
die fünfzigste Rede
des Präsidenten.
Was auch immer da geschah,
ist kein Gedicht.
Versuche nicht zu beweisen,
wie sensibel du bist.
Andere haben schon behauptet,
Pflanzen zu sein.
Es ist unnötig zu demonstrieren,
wie unsensibel du bist,
denn das ist bereits
eine bekannte Tatsache.
Schreib keine Gedichte,
in denen du
ein ganz normales Ereignis
in deinem Leben
– rasieren, BH zurechtzupfen, U-Bahn fahren,
einen besonders spektakulären Sonnenuntergang betrachten –
verbindest mit einem bedeutenden historischen Moment
– Pogrom, Hungersnot, Verbannung, Attentat –
oder mit einem Mythos – Schändung, Eifersucht oder Verstoßung –
tatsächlich mit allem, das eine Thematik hat.
Gedichte sind keine Fachvorträge,
die man auf Konferenzen hält.
Singe nicht von den Freuden der Großstadt
oder zähle die Vorteile des Landlebens auf.
Erwähne nie Schwäne,
Bologna, trockene Augen
oder einohrige Philosophen.
Picknicks und Gemälde sind keine Gedichte.
Verlege dich nicht aufs Drama
oder auf Lügengeschichten.
Benutze nicht deine Sehnsucht
als Ausgangspunkt.
Geheimnisse sollten bleiben,
was sie sind.
Stehe nicht
in einem brennenden Theater auf
und verkünde:
"Niemand hört auf die Poesie."
Schreibe keine Gedichte
darüber daß Dichter
unterbezahlt sind.
Schmeiß
deine Erinnerungen weg,
beerdige deine Spiegel.