6. 5. 1996

Ich verschlief den Morgen im Art-Hotel, es regnete
Bindfäden in die Elbe, kein Frühstück
Aber ein hungriger Blick auf die Wände
Penck, Sohn keiner Klasse, malt sich ein Museum
Jagdmotive für Höhlenbewohner WESTKUNST oder
DIE STRICHMÄNNCHEN DER PLANUNG, das Taxi
Steckte im Stau auf der Dimitroff der Augustusbrücke
Nichts ging mehr während meine Mutter starb
Ich ging zufuß umrundend eine Erdramme
Gerät das Antaios ein Bodenspekulant
Aus Libyen mit seinen Leiharbeitern
Die Stadt war aufgerissen wie nach dem Angriff
Barockschutt, man kann in den Fundamenten wandeln
Und den Irrtum suchen, in der Staatskanzlei
Ein stummes Getümmel, statische Künstler
Sie halten sich unter jeder Regierung
Adam Schreier Güttler Hoppe und Braun
GEHE NIE ZU DEINEM FÜRST
WENNDE NICH GERUFEN WIRST
König Kurt der Frühaufsteher
Versammelte die unausgeschlafene Akademie
Zu einem Morgenappell, meine Müdigkeit
Ist verwickelterer Herkunft, ich gähne
Aus mehr Epochen, mein Spott ist Spätlese
Aus der Hanglage meines Bewußtseins
Am Ort meiner fristlosen Entlassung
Wir druckten FRÖSI fröhlichsein und singen
Vier Farben Offset JA WENN DIE KINDER
IMMER KINDER BLIEBEN mein wacher Bruder
Bestätigte meine politische Unreife
Der zweite fuhr schwarz über die Grenze
Einer von fünfen, das verlangte der Realismus
Ich trug der Tochter eines Musikers den Koffer
Sie wollte Musik ohne Politik studieren
Hellwach nach der Liebesnacht zum Bahnhof
Im Land Hanns Eislers vergeblichen Streiters
Gegen die DUMMHEIT IN DER MUSIK
Auf dem Heimweg wurde ich ein Dichter in Deutschland
Zwischen Stoppelfeldern unter dem Sternhimmel
Eine Schlammspur unter den Füßen, jedenfalls Sand
Auf den Korridoren der Macht, meine Sanftmut ist hart
Erarbeitet in der Zementfabrik SOZIALISMUS die Frage
Die keine Antwort zuließ bzw. die Antwort
Die keine Fragen zuließ, in Moskau ist jetzt die Synode
Zusammengetreten und diskutiert die Frage:
KANN DIE APOKALYPSE IN EINEM LAND STATTFINDEN?
Der Witz ist auch dünne geworden, wie plattgemacht
Goldmann, mir schlafen die Füße ein
Auf dem Parkett, wir waren zu lange wach
Überwach vom Warten auf den Morgen
Bis uns dämmerte daß er vergangen war
Ich trank Sekt in der Sächsischen Akademie
Während meine Mutter starb, ich sah sie gestern
Leben in dem ausgemergelten Körper, der Schmerz
Krümmte sie in ihre letzte Gestalt, sie hatte
Einen Moment den Mut verloren und war müde geworden
Gelegenheit, sie RUHIGZUSTELLEN, sie lag
Den Kopf zurückgebogen und hob verwundert /
Empört den Arm, in dem die Kanüle steckte
Und griff sich ins Gesicht an die Sauerstoffsonde
Ohne uns wahrzunehmen / handeln zu können, heute
Finden wir sie abgestellt im Keller, gleich an
Der Tür, eine Binde um das Kinn, der Kopf
Mumienhaft klein, ein Fetzen Mull auf dem Auge
Ist liegengeblieben, die Wangen kalt
Ich habe noch dreißig Jahre zu leben
Ich sitze an einem Tisch mit meinem toten Vater
Es gibt Gräupchen, der Landser löffelt
Das Gewehr geschultert, sie schmecken salzig
Von den Tränen die heimlich über dem Herd
Hineingemischt werden, oder zwanzig
Wenn ich nicht müde werde künstlich ernährt
Von meinem Zeitalter OSTEN WESTEN
EINE VERMISCHUNG sagt Penck UNTEN OBEN
Die Schnellgeburten aus schwarzem und rotem Acryl
Nein eine Trennung DRIN UND DRAUSSEN
LEBEN UND TOD, wann wird der Dichter
Geboren, NACH JAHREN DER NIEDERLAGE
UND GROSSEM UNGLÜCK WENN DIE KNECHTE AUFATMEN
UND DIE BILDER ERWACHEN VOR DEM UNGEHEUREN ANBLICK.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1999
From: Tumulus
Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1999
ISBN: 3-518-41027-X
Audio production: 2000 M. Mechner, literaturWERKstatt berlin

BAUKLÖTZCHEN

Der Baum wuchs mitten im Raum.
Daneben wie erleuchtet meine Schwester
sie band mir ernsthaft und geschickt
die gläsernen Schleifen.
Warum, beschwor ich sie, warum, Theodora,
leben wir nicht voller Demut
entweder im Dunstkreis des Kaisers
oder [weit weg] an der stillen Küste des Schmieds.
Vergiß nicht den Fluß, wandte sie ein,
ich brauche einen Fluß vor dem Haus
mit Binsen am Ufer und Kieselsteinen
und einer Uhr im Schilf
für die unermeßlichen Sekunden der Tiefe.
Vergiß ihn nicht im Morgendämmer
beim ersten Erwachen in seiner sanften Kühle
aufatmend in der blitzenden Brise, in der
die Kioske davonsegeln nach Norden
und die Busse einer nach dem anderen
vorbeigleiten im Rascheln der Zeitung.
An der Treppe wächst noch ein Baum empor
unter den hellen Regentropfen, höher als
das verlassene Schwalbennest, über die
Schneegrenze hinaus.
Alles strömt mit in diesem Fluß,
so strahlend sauber, in lebendigen Farben:
rot der Berg, braun die Sonne,
so weiß die Kamillen am Himmel,
hellblaue und gelbe Tierchen flimmernd
in der Biegung zum Meer.
Alles so ernsthaft, so glänzend
wie die zärtliche Spur einer Schnecke
auf einem Frauenschuh.
Versteh doch, wichtig ist nicht, daß du lebst, sondern
daß sich irgendwer an dich erinnert.
Nur der Mond lächelt dann und wann
Keiner von euch bemerkt es.

Übertragung von Brigitte Oleschinski