Ursula Krechel
Auch Dresden liegt unter Wolken
Auch Dresden liegt unter Wolken
Vogelhafte Greisenstimme, ein Krächzen, Golkern
zittrige Wörter zwischen eingefallenen Lippen
halbe Silben verschluckt, wie das Gebiß beinah
verschluckt der Name, der Ort, Gemäuer, Schornsteine
alles, was ist, war. Verschmorte Erinnerungslücken.
Wo jetzt die Baukräne gewaltig einarmig zuckeln
Blickfänger im Himmelsblau, verschluckt von Wolken
und seitwärts in Baugruben eingelassen, vorher in Gräben
gesenkt, wo kein Grab: Leichenteile und verbranntes Haar
die angesengten, leicht entflammbaren Hinterlassenschaften
zur Asche eines nahezu aufgebrauchten Lebens.
Auch die Stimme gesenkt, vorurteilslose Mementostimme
und der Zug, ein rasend schneller, so leer
bis auf die bleichenden Reservierungen, Plätze nicht eingenommen von –
rasche Buchungen, Umgruppierung von Zeit, Gepäck, Umständen
und harmlos aussehende Reisende, schnelle Spurwechsler
zwischen Ost und Nie-mehr-Ewigkeit in neuer Streckenführung
rascher Verstand, was eher heißt: Anpassungsfähigkeit
die Eiszeit durch Kälteschock überwinden
was auch eine Frage der Vorsorge ist. (Ein Forschungsprojekt)
Vorsorge gleich Fürsorge minus Menschenfreundlichkeit.
Futter schnappen die Fische auf mit kaltlippigen Mäulern
kaltschnäuzig geht die Zeit ins Land in Dresden
doch wo die Steine gesammelt und numeriert, wo kein Stein
auf dem anderen und alles um- und umgewendet, abgetragen
der große Leichnam, auf das nichts
wo jede Wolke rechtens jede andere verschiebt
in einem namenlosen Nahkampf, und Kunst hängt auf jeder Etage
zum Belieben, es gibt so viel, die Künstler
sehr freigiebig, malversessen, malvenfarbene Flächen
freizügig den Hotelgästen übers Bett gehängt, freudig frei
sehr vernünftig, geschäftstüchtig das Metier gewechselt
so daß nun jeder Atemzug, jeder Stein (sorgsam signiert, numeriert)
aufgehoben in einer Monographie des Ausgeatmethabens, Erlöschens
wenn das nicht schon zu viel gesagt
Wolkenverschieben über Ruinen
zwischen verwirrten Gesichtern, unter die Baukräne gedruckt
das Tote aufeinandertürmen, damit es aufrecht steht.
(Welche Ruinen, welche Epoche, numeriert, signiert, von wem?)
Als dann die Sonne durchbrach, hitzig und überwältigend hell
blank wie ein künstlich gewachster Apfel, und die Künstler
sehr freigiebig, malversessen mit kräftigen Pinselschwüngen
Wolkengemälde in Wasserfarben, ein aufgehellter Horizont
jetzt mit ausgefransten malvenfarbigen Rändern
der schnelle Zug, zügig ohne Aufenthalt
was einmal Leben in Scheiben schnitt
flottiert jetzt konjunktur- und wetterabhängig
kann auch mal vorkommen, daß der Triebkopf eines Zuges
vollständig wie niedergeritten, niedergemacht von Russen
Betriebsstörung: verbrämt in höflich peinvoller Entschuldigung
wie dann der Sonnenball, als wir nach Westen fuhren
wie neben uns riesengroß im Fensterausschnitt
der abendliche Sonnenball nach Westen rollte
wie wir uns pampig in den Polstern plusterten
das steht uns zu, diese Sonne, Kunst überm Bett, dieser Zug
so leer, so still, so von der Sonne begleitet.
Auch Dresden liegt unter Wolken
hinter uns (historisch gesehen)
doch die Vorstellung von Wetter jeder Couleur
Wolkenbanksitzen, Wolkenkitzeln, Wolkenkopfkissen
Gnadenbrotfressereien mit noch warmer Kruste
von denen der Magen, naja, schwerverdaulich
eine einzige Ellipse historisch besehen
doch wie der Sonnenball rollte immer links vom Zug
halbstundenlang so gerecht wie die Geographie
wie wir so bequem unter der Wolkendecke schliefen.