Großes Erwachen

Ich erwache. Alles ringsum erwacht.
Decke, Wand, Türe, Vorhänge, Tische,
der Boden, Stühle erwachen. Wimpern,
Haare, Arme, der Nacken, Rücken,
Bauch, Hüfte, Schenkel, Waden, Gelenke,
Knöchel, Zehen, Nägel, Finger erwachen.
Es erwachen Lippen, Zunge, Gaumen,
das Gähnen, der Bauchnabel, Nasenflügel,
das Bewußtsein erwacht, der Raum, die
Zeit erwachen, alles erwacht. Dinge und
Menschen. Liegen, Sitzen, Stehen, Torkeln,
Halten erwachen. Das Blut erwacht und
der Atem. Der Lichtschalter, Spiegel,
die Blendung, das Zwinkern, Zähne,
Zahnfleisch, Falten, Bart, Unterhose – Penis
und Urin erwachen. Es erwacht ein Fluch,
ein Wort, ein Blick erwachen. Farben.
Beine übereinandergeschlagen, der Brustansatz.
Ein Stück Nacht erwacht und ein Fetzen Traum.

Prag ist erwacht und Rom. Der ganze Balkan
erwacht. Und Afrika erwacht von Süd nach
Nord. Schanghai erwacht nach Peking, aus dem
Schlaf gerüttelt von zitternder Hand. Leningrad
erwachte in einem Zug, auch Stalingrad. Linz
ist erwacht, dann München, Berlin – die ganze
Welt. Niemand schläft. Kein Mensch. Dinge
schlafen nicht. Auch nicht Tiere.
Erwacht ist alles. Nichts das schläft.

Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag,
Freitag und Samstag erwachen. Auch
heute und morgen, Hemd und Hosen,
Kaffee, Tee, das Geschirr erwachen.
Gequietsche, Geklirre, Blubbern, Schlurfen
erwachen und Adjektive, Verben im
Indikativ und Konditional. Es erwacht der
Ablativ, Vokativ und jedes Motiv.
Alles ist da – ist wach. Nichts kennt mehr
den Schlaf. Auch er ist erwacht mit dem
Unbewußten und mit den Geheimnissen.
Der Nebel erwacht und die Dämmerung,
der Sonnenschein, Wolken, der Sturm, der
Hurrikan. Treppen erwachen, Straßen
erwachen, Plätze mit Statuen, Kugeln,
Toten und Kanonen, Panzern, Liebespaaren.
Häuser sind erwacht und Kamine, von
Ost nach West mit einem bitteren Geruch.
Antennen erwachen, Nachrichten, Schatten,
Wärme und Kälte. Wasser, Eis, Gase
im Äther und in Lungen. Atome erwachen
und die Radioaktivität. Wahrscheinlichkeit
und Statistiken erwachen zugleich mit allen
Zahlen, Gesetzen, Regeln und Fehlern.

Niemand kann seine Augen schließen.
Alles wird wach. Ob Materie oder Seele,
Engel oder Potentat. Und Wissen erwacht.
Auch das Vergessen und mit ihm
erwacht Erinnerung, Verbrechen,
Grausamkeiten und Freiheit, Neid
und Einsamkeit. Der Rassismus, der
noch schläft erwacht. Sekten, Pamphlete,
Lethe erwachen, Styx und Dante.
Väter erwachen, Mütter, Kinder, Föten,
Spermen, Eizellen, alle Verwandten.
Freunde erwachen, Kränkungen, das
Lachen. Wünsche erwachen, erfüllte
und unerfüllte und wecken Schicksale.
Geweckt werden Katastrophen, Ehen
und ihre Kombinationen. Es erwachen
die Möglichkeiten und Wirklichkeiten.
Es stehen auf Zukunft, Vergangenheit
und Gegenwart, einander gleichgestellt.

Aufgewacht sind auch Laute, Babel
und Sprachen. Gesang und Lieder.
Madrigale. Sonette. Die Oper. Verse.
Alles erwacht unverhofft gerade
jetzt. Strophen erwachen, der Versuch,
der Roman erwachen und Entwürfe.
Allesamt aufgewacht in Bibliotheken,
im Hörer, Leser, Verleger, im Autor –
in Gedanken, auf dem Papier, in Tinte,
Stein, auf kleiner runder Scheibe sind
erwacht die Große Elegie für John Donne,
Gezählte Tage, der Brief an Lord Byron,
der Divan, Spaziergang, die Bukolik,
Epoden und alle Vaginen und Hoden.
Noah erwacht und die Ertrunkenen,
Abraham, Paulus und Saulus erwachen,
David und das Kind. Maria, schwanger
auf der Flucht. Und die fliehenden Völker.
Sie tauchen auf – erwacht wie alle Sklaven
und Sokrates, Platon, Descartes, Spinoza
und Kant, Epikur erwacht auch. Alle Philosophen,
die Ideen erwachen. Ans Licht tritt alles.

Erwacht nach dem langen Schlaf, erwacht
nach kurzem Leben und langem Alter,
erwacht nackt, in Hütten, Stiefeln, im
Feld, Blut, Morast. Erwacht beim Liebesakt.
Erwacht, erwacht, erwacht. Und erwacht.

Aale, Wale, Archeopetrixe sind erwacht,
Schnecken, Schlangen und deren Entwurf.
Dinosaurier erwachen. Die Eis-, Würm-,
Permzeit erwachen – gute und schlechte
Zeiten, die großen Erwartungen erwachen.
Geweckt werden Napoleoniden und jede Krone.
Miles erwacht und Bach, Mozart und Dvoøák.
Jede Schlacht. Vietnam erwacht, Korea,
der Golf, die beiden und alle anderen Kriege.

Du bist erwacht und ich. Und erwacht sind
Planeten, Sterne, Sonnen, Monde, Galaxien
und Universen. Die Alpen, Karpaten, der
Himalaja sind erwacht. Tibet ist erwacht, das
Baskenland, Istrien, Galizien und der Schwarzwald.
Erwacht sind Knossos, Ponpeji, die
Azteken, Inuit und Korsen. Buddhisten
Hindus, Sikhs, Schiiten, Suniten
sind auch erwacht und Christen, Juden und
Schwule, Technokraten, Börsianer,
Zuhälter und Richter, Polizisten und
Lehrer. Alle erwacht, alle ausnahmslos.

Aufgeschreckt sind Schrauben, Bleche,
Reifen, Ziegel, Backsteine, der Beton,
Stahl und Holz. Züge, Flugzeuge,
Auto- und Solarmobile, Fahrräder
Traktoren, Lastwagen, sie alle sind
erwacht. Und Schiffe. Mit ihnen
erwachen Abgase, Unfälle, Steuern,
Einkommen, Reisen, Spesen, Tankstellen,
Flughäfen, Landestege und Havarien,
Öltanker und Flugzeugträger.

Die Welt ist erwacht. Mittag, Nachmittag,
der Morgen, die Dämmerung, die Nacht.
Es erwacht das Einschlafen, Schlummern,
Schnarchen. Der Mond erwacht, Sternschnuppen,
Satelliten, Astronauten und Asteroiden
erwachen. Die Stille erwacht. Erwacht ist
der Lärm. Von Elementarteilchen bis
zu den Augen ist alles offen. Verschlossen
ist nichts, nichts verborgen, nichts
verloren. Alles ist gefunden, erwacht.

Und Gott ist erwacht. Jedes Prinzip. Und Theorien.
Nichts ist tot. Weder Stein, Baum noch
Einfall, Empfindung oder Verdauung
schlafen. Auch Namenloses schläft nicht.

Alles ist da, erwacht, du und ich. Er, sie und
es. Um uns herum, um Dinge und Menschen,
steht das Erwachen, greifbar, sicht- und fühlbar
nah. Vom großen Erwachen erfaßt auch
das Warten, daß der Augenblick ewig schien.
Ewig erwacht, alles, denn es ist der Jüngste Tag.

© 1999 Carl Hanser Verlag München Wien
Aus: Großes Erwachen
München Wien: Carl Hanser Verlag, 1999
ISBN: 3-446-19693-5
Audioproduktion: literaturWERKstatt berlin 1999

CASERNE

Que la douleur

Apparaisse beaucoup plus tard

Qui le nie.


Il était une fois, toi à la gare

Mais le soir, l’incendie véritable

Qui le nie.


Ce sont tes

Dernières douces journées

La caserne

Où tu es descendu et t’es installé

La douleur

Qui le nie.


Ignore

D’où viennent

Les falaises horizontales

Ta douleur est

Un gain pour

Qui le nie.

çeviri: Sevgi Türker-Terlemez - Bruno Cany (L'IMAGE DE L'UNIVERS, L'Hammartan, 2015, France)