حالة حصار

© 2002 Mahmud Darwish
Beirut
Audioproduktion: 2004 M. Mechner, Literaturwerkstatt Berlin

Belagerungszustand

Hier, am Abhang der Hügel,
Vor dem Sonnenuntergang, vor der Mündung der Zeit,
Stehen wir wie Gefangene, wie die, die Arbeit suchen:
Wir ziehen die Hoffnung groß.
Land, kurz vor Sonnenaufgang. Wir sind weniger klug
Und starren auf die Uhr des Sieges:
Keine Nacht in unserer Nacht im Schein der Kanonen.
Nachts wachen unsere Feinde, unsere Feinde entzünden dem
            Feuer ein Licht
In der Schwärze der Keller.
Nach den Versen Hiobs erwarteten wir niemanden mehr,
Aber diese Belagerung wird dauern, bis wir die Feinde
Unsere vorislamische Dichtung gelehrt.
Der Himmel ist grau am Morgen,
Orange in den Nächten. Die Herzen aber
Sind neutral wie die Rose am Zaun.
Hier bin ich,
Nicht hier, wo Adam sich an seinen Lehm erinnert
Und am Rande des Todes verlautbart:
Kein Platz mehr in mir für den Verlust.
Frei bin ich, nah meiner Freiheit, mein Morgen in meiner Hand.
Bald werde ich mein Leben betreten
Und frei ohne Eltern geboren sein.
Ich wähle Buchstaben aus Azur für meinen Namen ...
Während der Belagerung ist das Leben die Zeit
Zwischen der Erinnerung an seinen Anfang
Und dem Vergessen seines Endes.
Hier, bei den Säulen aus Rauch, an der Treppe zum Haus
Hat die Zeit keine Zeit,
Und wir tun, was die tun, die zu Gott aufsteigen,
Wir vergessen den Schmerz.
Der Schmerz:
Daß die Hausfrau morgens die Wäsche nicht aufhängt
Und schon zufrieden ist, wenn die Fahne nur sauber!
(...)

Einen Gruß dem, der unsere Aufmerksamkeit teilt,
Für den Rausch des Lichts, das Licht des Schmetterlings
In der Nacht dieses Tunnels.
Einen Gruß dem, der mit mir seinen Becher teilt
In der dichten Nacht, die aus den Sitzen quillt,
Einen Gruß meinem Gespenst.
Für den Leser dies: Glaub nicht
An das Gedicht, es ist die Tochter der Abwesenheit.
Es ist keine Intuition, kein Gedanke,
Sondern ein Sinn für den Abgrund.
Als die Liebe krank wurde,
Heilte ich sie
Mit Spott und mit Sport,
Indem ich schied den Sänger vom Gesang.
Meine Freunde versprechen mir immer zum Abschied ein Fest,
Ein bequemes Grab unter dem Schatten der Eiche
Und einen Grabstein aus dem Marmor der Zeit.
Doch ich gehe ihnen stets im Leichenzug voraus.
Wer starb, wer?
Die Belagerung verwandelt mich von einem Sänger
Zur sechsten Saite auf der Gitarre.
Eine Märtyrerin, Tochter einer Märtyrerin,
Tochter eines Märtyrers und Schwester eines Märtyrers
Und Schwester einer Märtyrerin, Schwiegertochter der Mutter
            eines Märtyrers, Enkelin des Großvaters eines Märtyrers Nachbarin des Onkels eines Märtyrers und so weiter und so fort ...
Und keine dieser Nachrichten stört die zivilisierte Welt,
Denn die Zeit der Barbarei soll vorbei sein,
Und den Namen des Opfers kennt gewöhnlich keiner,
Das Opfer, wie die Wahrheit, ist relativ, und so weiter und
            so fort ...
Ruhe, Ruhe,
Denn die Soldaten wollen
Zu dieser Stunde die Lieder hören,
Die die Märtyrer hörten
Und die wie frischer Kaffeeduft in ihrem Blute sind.
Ein Waffenstillstand, ein Waffenstillstand, nur um die Lehre zu
            prüfen,
Daß Flugzeuge zum Pflügen taugen.
Wir sagten ihnen:
Einen Waffenstillstand, einen Waffenstillstand, nur um die
            Absicht zu prüfen,
Es kann ja sein, daß ein Stück Frieden in die Seele sickert
Und wir mit Poesie um die Liebe der Dinge wetteifern.
Sie antworteten: Wißt ihr nicht, daß der Frieden mit uns selbst
Die Tore unserer Festung für die Musik aus Hidjaz und
            Nahawand auftut?
Und wir sagten: Ja und? Was dann?
Schreiben ist ein Löwenjunges, das am Nichts nagt,
Schreiben schlägt Wunden ohne Blut ...
Und unsere Kaffeetassen. Und die Spatzen und die grünen
            Bäume
Mit ihren blauen Schatten.
Die Sonne springt von einer Mauer
Zur anderen wie eine Gazelle.
Was uns vom Himmel bleibt:
Das Wasser in den Wolken mit den immer neuen Formen
Und etwas, dessen Erinnerung wir aufschieben,
Beweist, daß dieser Morgen schön und kräftig ist
Und daß wir zu Gast bei der Ewigkeit sind.


                                                                            Ramallah, Januar 2002

Aus dem Arabischen von Stefan Weidner. Aus: ‚Wir haben ein Land aus Worten’. Ammann, Zürich 2002