Oliver Mertins
Was Sergej erzählt
Hier, da weiterhin alle dem Getreide leben,
hier gastieren in Bastschuhen die wandernden Blinden,
die nachts bei den Brunnen Mond austrinken,
wenn des Vaters Erscheinung unterm Baum sitzt und träumt
vor der Mutter am Fenster, den Kopf in der Hand
und den Blick in der Ferne, wo die Lastkähne
mit Pferden beladen, mit Mehl und mit Hühnern
kreuzen schimmernde Ströme und singende Männer
die Stämme verladen, an Horizonten geschlagen
blau schäumender Wälder, woher klagend am Abend
der Auerhahn ruft und die Brüder heimkehren,
verwegene Reiter auf struppigen Pferden,
der Steppe Brandgeruch in bestickten Kleidern
und den Hirschschrei im Mund voll feuchter Luft –
o Birke, sing ich, o Mond in den Halmen,
rührige Hände, klingende Lieder,
da mir der Tag hier die Wege vertrat –
hier bin ich ins Raunen der Felder geboren,
in diese Landschaft lauterer Trauer,
Heimat, zerstoben, einzige Klage,
Zeitalter, wie Schafe geschoren und frierend
unterm Klingentanzen der Maschinen,
kochende Flüsse, mahlende Turbinen
und Traktorenwerke wo Dörfer standen,
hier ging ich verloren, ein singender Bauer.
Hier, das meint Rjasan, wo mein Bruder, die Lerche
im wogenden Mohn, noch das Igor-Lied kannte,
Holzhäuser nach Harz rochen, kochendem Tee,
der Vater die Wassereimer schleppte im Tragejoch
durch taubenhelle Höfe vor Eschendolden,
nachdem der Birkenstrunk für die Banja gespalten
und Kerzen brannten am Flammengesicht der Ikone,
wo die Wölfe wir jagten durch kristallene Wälder
und der Häherrufe eisblaue Gewölbe
tropften von Echos aus Kürbisrassel und Treibschritt,
schreckten Geister die Knochen benagten im Gehölz
und ihr Heulen trieb den Graupelz in Fackelkreise,
wo sich Kufenspuren später zum Kreuz verbanden,
da nun der Wehrwolf umgeht im Ödland der Brache,
fehlt es an Silber ihm das Herz zu durchschlagen –
hier, das meint Rjasan und seine Totendörfer,
darin ein roter Wind unsere Schatten verweht,
Häute von Hungerleibern an Gartenzaunlatten,
hier, das meint den Krähenschrei –Kopf ab, Kulak,
und zum Kolchos oder ins Lager getragen–
hier, das meint Rjasan, da in meinen Bruder, die Leiche,
Schwarzerde dringt, der hat ein Grab hier im Atem
des kalten Stromes, woher die Kornmutter singt
und aus Brunnen, die mit Gras verwachsen,
Blutschnäbel höhnen –Kulakenpack, Kulak,
dir gehts an den Kragen, den Kragen, den Kragen–
die Felder gedüngt sind mit zerschlagenen Händen
und herbstbraunen Krusten von Spatenblättern,
Weiler mit rußschwarzen Fensterhöhlen starren ins Nichts,
der Wind die Krume weht auf leere Augen
und Dächer verwaister Katen abdeckt wie Schädel,
die unter Sonnenblumen bewohnt sind von Ratten.
Hier, wo aus julidurchglühten Räumen wir
hinabstiegen in frostige Keller um Krüge Milch
und Nachtschattengeruch dampfte vom Kartoffelblust,
wo im heiseren Mittag wir Krähennester
ausgenommen und auf sonnenduftender Erde geruht
bei Dillkeimen und gelben Gurkensamen,
wo das Gras wir gemäht in flirrender Hitze,
Getreide gedroschen und Heu geworfelt,
in Schobern Brot gebrochen, Wein getrunken,
die Seen durchtaucht, schlank, geschmeidig wie Otter
und zur Nacht dann singend bei den Pferden gewacht,
ihrer Wärme im Stroh beigelegen,
wenn Mond und Tau uns die Herzen geschlagen,
darin süßer das Blut schwoll den Trauben
der Sterne, der Moskitos entgegen –
o Birke, sing ich, o Halme, abendtrunken,
rührige Hände, klingende Lieder,
da mir der Tag hier die Wunder vertat –
hier ging ich verloren, ein singender Bauer,
in dieser Landschaft lauterer Trauer,
da Hände, fremde und seelenlose,
die Wälder rauben darin der Auerhahn sang,
die Halme raufen darin zur Nacht sang der Käfer
und Traktoren pflügen die knochenstarrende Flur,
hier wurd ich ins Raunen der Felder geboren,
als mich der Wind noch nicht forttrug
und der Sumpf nicht verschlang.