Wulf Kirsten
VERLORENE SÄTZE
früher, ja, früher, mein freund, als jeder baum
winters mit gelben zöpfen strohgebändert,
ganze alleen gefascht, fanggürtel sauber gepinselt
in handarbeit, am dorfrand standen die kirschpflückerbuden,
federleicht mußte die leiter sein und endlos lang,
die letzte spille schwingend und schwindelerregend
gelehnt, akrobat schööön ohne zuschauer,
freischwebend in himmlischen räumen, nahezu
jedenfalls, wehe, wenn der ast nicht hielt,
was sich der überflieger von ihm versprochen,
Oswin, mann aus dem armenhaus, hackte die gräben aus,
ränderte wege mit augenmaß zum dorfe hinaus
bis zur chaussee, schob seine karrete vor sich her, lehnte
alle drei leitern, auf die ich stieg, mitten hinein
und hinauf in den überschäumenden herbst, der uns
mit früchten aus vollen händen bewarf, Oswin,
nicht ein einziger baum war sein eigen, mann
aus dem armenhaus, karre geschoben, hacke geschwungen,
herbst um herbst leitern gelehnt, tausend und eine
gespießt und gestellt, nie einen aufstieg gescheut
in den höchsten der bäume, bei tausendundzwei
traf ihn der tod hoch oben, Oswin samt leiter
aus dem leben gestürzt, kein pflücker in sicht,
der dir nachsteigen möchte ins hohe geäst,
alles fleisch wird gras, am wegrand die bäume, wie sie
vergehn in einer litanei aus verlorenen sätzen.