Jürgen Nendza
Piegaresische Fenster I-VI
Piegaresische Fenster I-VI
I
Biegsam. Den Wegrand patrouilliert die Wilde Karde,
aber sie reicht nicht aus zum Aufkratzen des Stoffes,
damals nicht, heute nicht. Also weiter
Anfragen an die Vegetation: Immergrün, Macchia
zwischen Blüten und Wunden, aus der die Erinnerung
zu ergänzen beginnt und evakuiert
die Gegenwart im Unterholz für eine Geschichte
des Widerstands zum Beispiel, die mitläuft
durchs Vokabular, gegenüber den Hügel hinauf
zum römischen Weiler, wo wir den Tempel Dianas
sehen im Zitat und mit jedem Wort
ein Labyrinth, in dem die Zeit sich verliert,
bevor sie uns vor die Füße legt Wegwarte,
Patronen.
II
Patronen. Die Dämmerung ist wieder Schußfeld
gewesen. Doch jetzt ist das Gelände frei:
Die Hunde schlafen hinter den Steineichen,
an deren Blutstamm wir Hirschkäfer sammeln,
am Totholz Legenden vom Feuerflug. Die Hitze
schnürt ihr Korsett, staut Ginsterlicht auf,
Reisighaut, Hügel und Tal: eine Vertikalität
verlassen vom Wind. Gut organisiert
nehmen Ameisen Maß an unseren Füßen,
und wie eine Ausweichbewegung zieht deine Stimme
einen anderen Horizont. Fluchtpunkt ist die Artistik
der Vögel, die uns weiterführt zum Anblick einer
Schwalbe knapp über dem Pool: Ein Wellenmikado reflektiert
auf ihrer weißen Brust. So fliegt das Wasser davon, sagst du
mit einer Leichtigkeit, die ringsum abtauchen läßt Hügel,
Legenden.
III
Legenden. Ich denke an Wässergräben englischer
Gärten. Unbegehbar ihre eingebundene Weite,
und nur ein kleiner Schritt zu den Zwischenräumen
der Worte. Wieder sind es Motive der Entfernung,
die so nah ihre Muster aufschlagen: Der Segelfalter
legt seinen Halbmond in die Wölbung deiner Brauen,
berichtet vom Bogenschlag filigraner Lünetten. Später,
am Haus, bleibst du im Türrahmen gelehnt. Eine Figur
zwischen Kommen und Gehen, die hinunterschaut
zum versteinerten Fluß: Durchtrocknendes Licht, das ausblüht
Salz und jede Bewegung einzufärben droht ins Verharren.
Dann richten sich Fürstenhöfe ein auf den Hügeln,
arkadische Szenen, Märchenbilder, im Silber des Ölbaums
Tonwerte.
IV
Tonwerte. Längst haben sich Vannuccis Farben gelöst
von ihren Motiven, irren herum oder erforschen
den Zweifel. Wir kauen Rosmarinbrot.Du erzählst
von der Blütezeit piegaresischer Glasmacher,
als deine Worte abgleiten ins Schmirgeln
meiner Kiefer und einsetzt der Gesang der Stieglitze
vom Morgen, der scherbelnd im Halbschlaf
durch die Säulenzypressen fällt, als die Glocke
der Pfarrkirche mager zu nagen beginnt am Signalton
rangierender Baustofftransporter im Tal
und zehnmal die Zeit in der Zeit wiederholt. Wachwerden
hinter piegaresischem Glas, denke ich, als du
noch sagst: für die Domfenster verwendet, in
Orvieto.
V
Orvieto. Nachmittags im Kellersystem. Tuffgestein,
Porzellanerde, im Kühlfach der Gänge gestapelte
Fristen. Es verläuft noch etruskisches Wasser
unter den Einfluglöchern bei der Ankunft
im zehntausendfach gurrenden Vorratslager
für das Zentrum darüber, das sich ausspricht
im Blutwunder gegen Ketzer. Auf vulkanischem Fels
gehen wir an Deck. Das Schiff aus Kalkstein, Basalt,
als wäre die arabische Schönheit gekommen,
und wir bewundern Signorellis Liebe zum Detail
abgründiger Menschennatur, während
draußen auf den Bildschirmen sich fortsetzt
die Anatomie der Übergriffe: In Genua,
sehen wir, werden Gefangene gemacht
zwischen Denken und Sprechen,
Tote.
VI
Tote. Wie liegengeblieben erscheint uns die Landschaft
auf dem Rückweg. Aufgerissen neben der Fahrbahn die Erde.
Kabeltrommeln, Verbindungsgräben. Für einen Augenblick
weißt du nicht, ist es Stau oder Prozession, was die Motoren
zueinander schiebt. Wir biegen ab in die späte Sonne.
In der Anlage Zypressen, nacktsamiges Immergrün,
flammende Kronen. Dein Schatten geht dir jetzt voran.
Schweigend sein Metronom, und längs der Körperlinien
lachsfarben unsere Aufschüttung der Lust. Wir krümmen
die Nacht, den Raum, das Fenster geöffnet. Später
blenden Scheinwerfer auf vom Hügel gegenüber, häuten
die Serpentine, und wir sehen uns wieder in einer Renaissance
des Lichts, verteilt zwischen Blüten und Wunden, so
biegsam.