Zsuzsanna Gahse
Donauwürfel - Zehnter Würfel
1.
Im Frühsommer fuhr ich von Verona
aus in Richtung Brenner den Adige
entlang; ich auf dem Weg hinauf zum Pass,
der Fluss mit seinem hellen Wasser hielt
auf das Flachland zu, vom Zugfenster aus
sah ich die riesige Flussfreiheit, ein
Bergfluss im Aufbruch, in Richtung Süden.
Weiter oben zum Brenner hin folgte
der kleinere Eisack, in jedem Sinn
hell auch er, schnell und fast durchsichtig, der
2.
Süden leuchtete ins Wasser hinein.
Nach der Passhöhe fiel am Gegenhang
wieder ein eiliges Wasser auf, die
Sill, ein Fluss, der von da an in Richtung
Norden hielt, weil er von Anfang an so
ausgerichtet war, und ohne jede
Überlegung verstand ich anhand der
Flussrichtung die entschlossene Eile,
sie galt der Donau, mittelbar wurde
dieser schmächtige Fluss in die Donau
3.
gelangen. Damit hab ich gewonnen!
Ein persönlicher Gewinn ist das, der
Brenner spielt mir eine Verbindung zur
Donau zu, sagte ich mir, und dass für
mich nur die Donau gilt, diese klare
Hauptlinie quer durch Europa, das
gute Rückgrat! Wieso dachte Heine,
die Themse sei schöner als andere
Flüsse? Sie war nicht der Fluss, der zu ihm
gehörte, die Themse ist nicht mein Fluss.
4.
Schön ist sie, aber nicht vertraut. Und ob
fremd oder vertraut, bleibt eine Frage,
über die ich nicht hinweg springen mag,
so dass ich alle Abhänge in den
Alpen, den Verlauf der Bergstöcke und
die Lage mancher Felsen durchkämmen
werde, um die Richtung der Flüsse, in
die sie losstürmen, zu ermessen. Und
damit sind auch die Alpen verändert,
sie sind eine Sprungschanze für viele
5.
Wasserträume, für die Verteilung des
Wassers. Ich weiß, eine endgültige
Flussrichtung ist nicht leicht absehbar, und
ein Kalkmassiv oder ein Hindernis
aus anderem Gestein kann den Verlauf
quasi verkehren, umkehren, dann spricht
die Fließrichtung mit einem Mal für den
Rhein, obwohl vorher für die Donau zu
hoffen war. Bedauerlicherweise
sind solche Wendungen immer wieder
6.
vorgekommen, eine Platte verrutscht,
ein Bergzug ist halb abgetragen, und
schon hat sich das Spiel verändert, wobei
ich argwöhnisch zuschaue, parteiisch
nehme ich Anteil an der Geschichte,
bin bei Nebenflüssen parteiisch und
erst recht bei der Donau, wenn zum Beispiel
vom Sickerwasser gesprochen wird, das
in den Bodensee gelangt und im See
zum Rhein hinüberfliest. Ein bitterer
7.
Verlust. Man kann alles verlieren, das
habe ich schon oft gedacht. Immerhin
war der Rhein einmal ein Nebenfluss der
Donau, durch Verrutschungen hat sich die
Lage verändert, das ist zwar lang her,
und ich will nicht nachtragend sein, doch es
reicht mit den Umverteilungen. Gute
Donau, feines Krokodil aus Wasser,
Tausendfüssler, ein Urviech, das sich viel
gefallen lasst, gutes altes Rückgrat!
8.
Andererseits merke ich seit jener
Fahrt zum Brenner, dass mir die anderen
Flüsse zunehmend wichtig sind, all die
Fremdgewässer. Den Hut will ich ziehen
vor der Themse, der Rhone, der Oder,
und wunderbar hell ist der Adige
zumindest im oberen Verlauf, vor
der Mündung wird er zwar sumpfig, aber
dann ist er bald am Mittelmeer, schleppt sich
in die Adria. Südlich der Mündung
9.
nennt man sogar die Lagunen besser
nur Fremdgewässer. Einmal stand ich in
Venedig am Campo San Barnaba,
als die Ambulanz einen bis zum Kopf
zugedeckten Körper auf der Bahre
aus einem der Häuser zum Rettungsboot
trug. Das Boot ließ sich Zeit, denn ohnehin
haben die Kanäle ihr eigenes
fremdes Tempo, und die Eile hatte
sich in diesem Fall erübrigt. So wird
10.
man in den Lagunen nach dem Sterben
abgeholt, sachlich, geschickt und ruhig.
Der Friedhof hat den unmittelbaren
Zugang zum Meer, da hinaus will schließlich
jeder, sicher auch der Mann auf jener
Bahre, aber ich wäre dort draußen
verloren. Früher dachte ich, dass man
mich in die Donau werfen sollte, im
Fall des Falles, inzwischen finde ich
schon die Überlegung zu umständlich.