Dinçer Güçyeter
die Schlafkammer des LKW-Fahrers (und sein Poesiealbum)
auch ich habe einen Platz in diesem Leben, hier, ganze 3 qm
hier hängt das Bild meiner Tochter, hier der Pullover, den meine Frau
mir zum 40. Geburtstag geschenkt hat, hier, unter meinem Kissen
die Pornozeitschriftensammlung, hier, zwischen meinen Beinen
das Nuttenparfüm, hier, in meinen Nasenhöhlen der ätzende Geruch
der Raststätten, hier, in meinen Achselhöhlen der Schweiß
der beladenen Paletten, hier, auf diesem Liniendiagrammm
die willkürliche Kontrolle, hier, im Bauchnabel die Muskeln
eines nestlosen Vogels, hier, zwischen meinen Zehen die verewigte
Pilzkultur, hier, in meiner Unterhose der geduldete Urinfleck
und hier vorne, im Fach, zwischen Zollpapieren, Pass, Führerschein,
LKW-Ausweis, Landkarten (ich trau dem Navigator nicht so ganz)
Hustenbonbons, ausgetrockneten Kugelschreibern, hier, zwischen
diesen Pflichtlektüren habe ich mein Poesiealbum versteckt
ihr glaubt mir nicht? ich weiß, diese Sandalen, diese Jogginghose
passen nicht in euer Dichterbild, der Rahmen eines Flaneurs, eines
Weltenwanderers sollte schon größer sein, aber, ich sag mal so
diese Strecken, dieses Warten auf das Aufwachen der Zoll-Beamten
diese Staus, dieser Tachograf, der Messschreiber, haben in all den Jahren
ihre eigenen Akademien gegründet, ein Studium ohne Diplom
es ist gleich Mitternacht, ich werde die Karre zu einer illegalen Bar lenken
ein Glas Cognac trinken, mit hodenkratzenden Kerlen Karten spielen, wenn das
Geld reicht mit Maria vögeln, und dann, ja und dann, was bleibt mir übrig,
mich hinter der Samtgardine in meine 3qm Suite zurückziehen
die Leser*innen dürfen einen Blick in das aufgeschlagene Poesialbum des LKWFahrers
werfen. hier der Eintrag von gestern Nacht, an der ukrainischen Grenze,
aber psssst, er darf es nicht wissen. dieses Verbrechen bleibt ein Geheimnis
zwischen uns.
aus dem Poesiealbum:
federlos, jung, mit allen reinen Gewässern war ich angefüllt
meine Träume, die Meere, wer hat sie aus mir rausgeschlürft?
Zweige hatte ich, nestlose Freunde, einen erhobenen Stolz
jetzt suche ich, warte, in Hoffnung, im Glauben, was soll’s
Fliegen, Fliegen war die Lehre, über mich, über Menschenköpfe
aber woher kommt der Gegenwind, diese verheerende Dürre?
die Bäume, alte Häuser, geben keinem mehr Schutz
in Versen, Wortspielen, in Reimen ruht die Zeit, in Schmutz
als unendlich gedachte Jugend, alles war nur ein kurzer Atem
ohne eine Antwort auf deine tief verwurzelten Fragen
ein mutterloser Vogel war ich in fremden Ländern
eine Widmung an die Heimat blieb immer in meinen Liedern