Norbert Lange
DER HUNGER
DER HUNGER
Wenn wir mit dem Essen spielen und nicht länger Fremde
in diesem Gedicht sind, besessen von einem anderen,
teilen wir uns in dampfenden Schalen eine Portion.
Und tragen zwei einen Herd, haben sie es überstanden.
Doch wüsstet ihr vom Schrecken, den wir erdulden,
verstündet ihr, wieso wir lieben: das Spiel mit dem Essen,
bei Gesang und Tanz das Feuer zu schüren.
Als Hunger den Tod zu einem Alten führte, sagte
der Mann, er wolle ihn auf seine Art empfangen, ging
und hängte sich an einen Baum. Den Mund hatte er gefüllt
mit Seehundknochen, erträumte sich Fleischmengen
im Totenreich, um seinen Magen vollzuschlagen.
Dieser Winter erbrachte große Ernte. Durch Hunger
starben viele. Doch wurde ein Kind geboren.
Wir sahen es von seiner Mutter durch den Sommer getragen.
Mit einem Körper, in dem aber Hunger rührte, welches
Leben konnte es jetzt haben, fragte ausgetrocknet die Mutter
und erwürgte es im Schlaf. Vergrub das Kind im Schnee,
hat davon gegessen. Bald darauf wurde ein Seehund gefangen.
Der Hunger zog weiter. Doch sie hatte dem Tod ein Leben
geschenkt und war fortan am ganzen Leib gelähmt.
Daran denken, wenn Geschirr zerschlagen wird, den Magen
sich vollzustopfen. Die Mutter verstehen, deren Leben
vom Kind abhing. Die hundert Schneeworte, leichter gewogen
als hundert andere, die mehr als eine Identität ergaben.
So vor einer Vitrine voll Seehundresten abgenagter Knochen stehen,
auf der Scheibe sein Spiegelbild im farblosen Schneewehen
sich umdrehen und in Schneeschuhen fortstapfen sehen.