Christine D'haen war zweifellos die wichtigste Dichterin der flämischen und niederländischen Nachkriegsdichtung. Ihr poetisches Werk ist einzigartig, bemerkenswert in dem breiten Spektrum und unvergleichlich reich in Inhalt und Form. Als erste Frau wurde sie 1992 mit dem höchsten Literaturpreis ausgezeichnet, der im niederländischen Sprachraum zu vergeben ist, dem alle drei Jahre verliehenen Preis für niederländische Literatur.
Christine D'haen studierte Germanistik, unterrichtete in Brügge und wurde später Kuratorin des Guido-Gezelle-Museums. Sie übersetzte Gedichte von Gezelle ins Englische und schrieb eine faszinierende Biografie über diesen großen flämischen Dichter des neunzehnten Jahrhunderts. Sie hatte ein großes Interesse an der englischen Literatur und bewunderte Milton, Edmund Spenser, Robert Browning und Edna St. Vincent Millay sehr. Mit großer Leichtigkeit zitierte sie Gertrude Stein oder James Joyce ebenso wie antike griechische und römische Dichter.
Sie debütierte 1943 mit der Veröffentlichung des langen, erzählenden Gedichts "Abélard und Héloïse" in einer Literaturzeitschrift. Ihre frühen Gedichte ähneln auf den ersten Blick der neoklassischen Vorkriegslyrik mit einer raffinierten Formvorstellung und dem gemeinsamen Thema des Konflikts zwischen sinnlicher Erotik und intellektuellem Vergeistigungsstreben. Ihre frühe Lyrik wurde zwar geschätzt, aber der Durchbruch des Experimentalismus in der flämischen Lyrik während der fünfziger Jahre stellte ihr Werk in den Schatten. Ihr Werk wurde nicht nur zu einem Symbol für alles, was in den Augen der Experimentalisten traditionell war, sondern machte Kritiker und Leser auch lange Zeit blind für die persönliche und experimentelle Art und Weise, in der sie mit festen Formen umging.
In ihrem späteren Werk verwendete sie beispielsweise stark eingeschränkte Strukturen wie Neuvains, Dizains und Douzains, die aus neun, zehn oder zwölf Zeilen mit neun, zehn oder zwölf Silben bestehen, experimentierte aber auch innerhalb dieser klassischen Formen mit überraschenden Enjambements, auffälligen Assonanzen, kontrastierenden Themen und Motiven sowie semantischen Zweideutigkeiten. Der Vers "Die Erneuerung des Alten", mit dem ein Gedicht aus der Sammlung "Mirabilia" endet, war einer ihrer Leitgedanken.
Obwohl die Zeit im Mittelpunkt ihrer Lyrik steht und ihre Gedichte durch die Verwendung von Zitaten und Verweisen auf Mythologie, Kunst, Wissenschaft und Literatur tief in der Zeit verwurzelt sind, ist ihr Werk auch von einer gewissen Zeitlosigkeit geprägt. Mit dem erneuerten Interesse an Intertextualität der aufkommenden postmoderne Poesie der späten achtziger Jahre rückten ihre Gedichte wieder in den Vordergrund.