Ⅰ
Dies ist ein anderes China.
Wozu existiert es?
Niemand antwortet, auch nicht
mehr mit einem Echo.
Dies ist ein anderes China.
Dasselbe, drei Generationen unter einem Dach,
reduziertes Privatleben
kommt Schauspielerei gleich; die nächste Generation
wird von der Grausamkeit der Norm herausgeformt,
Dösen heisst, Mutter
und Vater gegenüber Dankbarkeit empfinden und sich gleichzeitig
in der Fertigkeit üben, zu seinem Vergnügen zu kommen, aber so wie ein Schulbuch
eine laute Tirade des Lehrers wiederholt;
ach, dasselbe, Mensch und Ochse
ziehen in den Feldern Pflug und Egge,
als hiesse Leben Dulden;
dies ist ein anderes China.
Chinesisch wird einzig um der Scham willen gesprochen,
nur dass, wenn uns wie Bier der Schaum
uralter Sprache überläuft, wir weder
Erniedrigung empfinden, noch dass es uns zu Ruhm gereicht.
Zahnpasta, Pfannkuchen, Neologismen,
Zitate und idiotische Titel von der Art
„Menschheitselite“ haben den Geschmack im Mund
verändert, wer wüsste,
ob das nicht Gou Jians List ist?
Die vertraute Stadt wird zu
einer anderen Stadt, identische
Häusergruppen, mit
kleinflächigen Narben (in die Flüsschen der Vorstädte
strömt das verdorbene Blut provisorischer Häfen),
in den Fernsehern aller Haushalte läuft eine Serie,
ein paar Menschen töten Menschen, ohne
Sinn für Gerechtigkeit aber mit Humor.
(Apropos „Menschlichkeit“, der Polizist meint,
es sei Zeit für ein Nickerchen.)
Ob nun die List die Hoffnungslosigkeit,
von der wir sprechen und die wir gewohnt sind, verneinen wird,
so liegen in den Ämtern die optimalen Gründe bereit,
damit Freude in den Tabellen herrscht.
Ach, in den grauen Strudeln
von Hebei, dem Yangzi und Shanghai –
Stromausfall, Heizungsstopp, Wassersperre –
habe ich den Aufenthalt der Unsterblichen ausgemacht,
voller Verachtung und Respekt war ich wie verhext,
ich habe einen anderen Menschen gesehen.
Das flammende Rot der Strassen züngelte an ihm,
fleischliches Reisig bezeugte mit aller Kraft:
dies ist ein anderes China.
Zur Not könnte es als Relikt von „China“ gelten.
Aber auf den Gemüsemärkten, vor den Zeitungsaushängen und an anderen
zweitrangigen Schauplätzen verbindet – wie ein Wunder –
der Glaube ans Leben
die Untertanen zweier China;
auf der einen Seite machen Männer die Näharbeiten.
Eure Tagebücher lese ich nicht
und prangere eure Nöte an,
(Blumen züchten, Unsinn reden)
die vom Unrecht jener Überlebenden angeklagte Anmut
bildete einen betörenden Richtspruch,
„Satzbau, kraftvoller Stil“,
nichts als Schlamm. Ich verabscheue
euer erfundenes China, ein schmutziges
mit Bummelzügen zusammengeflicktes Land,
das sich vor dem Spiegel sein Gesicht verwüstet, jeder
fühlt sich bedroht, im Einklang mit der Belohnung,
(der Zug ist eingefahren)
Die von Ferngläsern auf Bergen und Hausdächern
vergrösserten Ausschnitte des Leids
machen mich hitziger als du – auf der Strasse
quengle ich vor einem alten Mann: Gib uns,
was du uns angeblich schon gegeben hast!
Geben? Einfach geben. Die alten Köpfe
und die alte Wirklichkeit, ohne
Kompromisse, keine Ausflüchte.
Womit ich konfrontiert bin, ist zugleich was mir fehlt,
Staat, Bestimmung, irgendein Tag
und die Fähigkeit zur Freiheit.
Der Spatzen Abenddämmerungstheorien können aufhören!
Die Philosophie vom schwebenden Dinosaurier
muss dem Chinesen der neunziger Jahre
verzeihen, er kann nicht das Schweigen anhimmeln.
Übersetzen gleicht einem Nesselfieber.
Schielende Augen sind angemessen,
angemessen und dazu wachsam. O, hin- und hergerissen
zwischen Gram und Verwirrung, auf dem schlammigen Boden
vor der Tür sitzend: Kinder
gehen lärmend vorüber; die spitzen Pfiffe des Schicksals
kontrollieren das Wachstum. Vor dem Schlafen
wird die „Menschliche Komödie“ gelesen.
Dies ist ein anderes China.
Nur um der Existenz willen.
Nicht bürokratisch, sondern anti-bürokratisch.
Unser Leben duckt sich
wie wir selbst, aber unser
Ziel ist nicht das Leid, auch nicht
sich deswegen zu verbeugen, vor sich hin
murmelnd: „Und ... du?“
August 1995
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Du Fu (712–770) lebte in der Tang-Zeit (618–907), während der die klassische chinesische Lyrik ihre Hochblüte erlebte. Er gilt allgemein als der grösste chinesische Dichter, dem es wie keinem anderen gelang, in seinen Gedichten persönliche Erlebnisse und Empfindungen mit sozialem und politischem Verantwortungsbewusstsein zu verbinden.
Die List des Gou Jian ist die sprichwörtliche Bezeichnung für die Strategie, den Feind durch Unterwürfigkeit in Sicherheit zu wiegen, um später Rache zu nehmen.
Hebei ist der Name jener nordchinesischen Provinz, in deren Gebiet sich Peking befindet.