Ulrich Koch
SCHANDE DEN DÖRFERN, SCHANDE DEN DÖRFLERN
Was wirft man in die honesty box
für Grünkohl der Marke LERCHENZUNGE?
Unsere Turnhallen sind schon die Schlafsäle
der nächsten Katastrophe.
Schande den Dörfern, Schande uns Dörflern.
Unseren Doppelnamen, unseren Doppelgaragen.
In den Gästebetten frieren die Alten hoch,
zu Ostern auf den Feldern die Steine.
Schande den Montagen, an denen die leeren Zimmer
auf Zehenspitzen in den Häusern schleichen,
die Schlange stehen bis zum Ortsausgang,
um sich ins Kondolenzbuch des Vormittags einzutragen.
Schande den Friedhöfen,
die Toten sind eingeschlafene Limbo-Tänzer.
Schande unseren Fertilitätsfressen.
Die Gesichter unserer Kinder sehen aus
wie die Kinder unserer Gesichter.
Schande der Kartoffelfäule im Gesicht.
Schande dem Schneckenfraß im Hirn.
Schande den zerfallenden Bäckereien,
dem Zimtgeruch ihrer Wände,
den Brötchen Marke Salpeterfraß,
den Fenstern, blinde Bäcker,
und den Räum- und Streufahrzeugen,
blinkenden Krippen in den vorweihnachtlichen Gärten
und den Schwiegertöchtern mittwochs auf den Aufsitzmähern
und den Schwiegermüttern mit den Drucksprühgeräten.
Schande unserem Ackerbau,
er ist wie Dynamitfischen.
Schande dem barrierefreien Wohnen.
Schande unseren Strumpfbeinen und Beinstümpfen
den röhrenden Hirschen und Bildschirmröhren.
Schande den Neubausiedlungen,
die Strampler auf den Wäscheleinen sind schon Schicksalsschläge.
Schande unseren überdüngten Weiden, Gräser kniehoch,
Kühe schwarzweiß,
unseren Gräben, Kanälen, Lagerhallen,
Windparks, Halden, Betriebsausfahrten,
unseren Turnhallen, Kirchen, Rohbauten,
in deren Vorgärten Kräne
zitternd nach Gold
oder Essbarem scharren.
Schande den Buswartehäuschen aus Waschbeton,
der Marienverehrung einer Dorfschönheit,
bevor sie das Klimakterium
der Volkshochschule betritt.
Schande unseren neugeborenen Tiefkühltruhen.
Schande den in der Ebene verstreuten Häusern, den Höfen,
dem „Wachse oder weiche“,
den Scheunen, Viehunterständen, Hochsitzen, verbunden
von Wind und Licht, miteinander redend im Gekläff
der Hunde, mit Schüssen fragend, mit Stille antwortend,
mit dem Geräusch der Nacktheit, wenn sich im Regen
die Dächer am Himmel reiben.
Abermals Schande den Zimmern,
von Spinnenfäden vertäut, sich zublinzelnd in der Nacht,
den Buswartehäuschen an den Kreisstraßen,
an den Kreuzungen, Stichstraßen: Kapellen.
Dem Fahrplan der Rücklichter. Dem Flüsterton der Dunkelheit.
Den Schwalben am Morgen. Dem Marschgepäck der Grundschüler.
Dem Busfahrer. Dem Rosenkranz des Lenkrads. Den Einfällen des Lichts.
Den in Betrachtung ihrer selbst versunkenen Teichen.
Dem gelben Postauto, das herumstreunt, bei laufendem Motor
steigt die Briefträgerin aus (Schande
der Briefträgerin!), ihrem Kindergartenblond,
ihrer Hand, die die Briefkästen bestäubt.
Der vogelgesprenkelten Fahne des Himmels,
der Zärtlichkeit eines Vormittags, der Schlafgesellschaft der Sätze
über dem Kleinstadtbahnhof am Abend.
Schande dem eigenen Knie,
blutig von der Prozession des aufrechten Gangs.
Dem Katzenfell der Stille, den Lippenbekenntnissen des Lichts,
der Jungfernfahrt des Leichenwagens.
Schande dem Schild: Kindergarten Sportplatz Friedhof.
Schande den aufgeschüttelten Wolken,
der Fruchtfolge der Psalmen.
Schande dem Heidentum der Kühe auf der Weide.
Schande den Hinterhöfen und Schuppen,
jenem Hinterhof, jenem Schuppen,
hinter dem wir uns immer heimlich trafen.
In der Regentonne zitterte der Mond,
in seinem versoffenen Gesicht
eine Handvoll Mückenlarven.