Gerhard Falkner
Der beunruhigende Satz
Der beunruhigende Satz
ZUERST bildet sich eine Rinne im Wort
in der die Milch, die die Sprache durchströmt
sich sammelt – und aus der man sie trinkt:
die Sprachmilch. Durch das Trinken der Milch
aus der Rinne im Wort entstehen Trockenheiten –
Sprachtrockenheiten – die Sprache wird brüchig
rund um das einmal ergriffene, sogar gemolkene
und mithin leer getrunkene Wortgefäß.
Eine Rinne im Wort ist wie wenn der Schlaf
Risse kriegt. Beiderseits des Rinnengrabens
springen Spalten auf, die die geschlossene
gesprochene Sprachoberfläche ebenso wie die
geschlossene ungesprochene Schlafoberfläche
zerreißen. Die Spalten und Sprünge beiderseits
des Rinnengrabens im Wort oder im Schlaf
lösen beim Auftreten neuer Milch die
Böschungen, die in diese Rinne sich neigen
und beginnen durch Abschwemmungen
diesen wieder zu füllen. Der Reiz der Kargheit
der rissigen Sprache oder des Schlafs mit Sprüngen
wird durch die Aufschüttung aus den immerzu bei der
Rinnenbildung entstehenden Böschungen
beseitigt, zugunsten einer wiederhergestellten
üppigeren Abrundung. Das Heranwachsen milchführender
Wörter bis zur Rinnenbildung und diese nach
Verlust der Milch über eine Wortdürre ausgelöste
Böschungsrissigkeit, die dann nach Auftreffen
neuer Milch schließlich sich wieder schließenden
und mit abgeschwemmten Böschungen neu sich
auffüllenden Sprach- oder Schlafgebilde lassen durch
den vernichtenden Wechsel von Aufbau und Verschüttung
ein Depot gewarnter Worte heranwachsen, die
Sprachverlust und Schlafverlust ebenso wie
Spracherwerb und Schlaferwerb dem Wankelmut des
Rinnenschicksals entwinden wollen.
Das sich anbietende Wort für diesen Vorgang
wäre: entrinnen. Entrinnen schaffen!
Aus dem Depot gewarnter
Wörter bildet sich im Idealfall außerhalb der
Milchführungs- und Rissebildungsvorgänge eine
die Sinne alarmierende Aussage. Eine die Sinne
alarmierende Aussage aus einem Depot
rinnenfreier Worte überspringt die
Bruchbildungsneigung einer denkbewegten oder
schlafbewegten Sprache, die Gefahr laufen könnte
Gehirnbänder zu sprengen und die sie
durchströmende Milch sinnos zu vergießen
und erzwingt den Abstieg aus der Höhe der
Reflexion in die Tiefe der Empfindung. So um
ihren Wirkungsgrad gedreht: böswillig
ausgedrückt um diesen betrogen oder gutwillig
ausgedrückt von diesem erleichtert blickt eine
von der Sprach- oder der Schlaferosion abgerückte
oder evakuierte Wortmacht direkt auf die
Unruheherde. Die Figur der Vokale ist gerichtet
ausschließlich auf Merkmale der Abschreckung
gegen die buchstabenbleiche Kopfstimme, gegen
die Verhörräume im Labor, gegen Schachzüge
auf der Gehirnkarte; sie wird ohne Risse, Rinnen
und Sprünge gesprochen und weder als Sprache
noch als Schlaf den jahreszeitlichen Fruchtbarkeits-
oder Verdorrungsvorgängen überantwortet. Diese
mehr als aussetzend denn als ausgesetzt einzustufenden
ungekerbten und rinnenlosen Wortbestände oder
Sprachandrohungen, im Aufbau vergleichbar
der quergestreiften Muskulatur, verringern das Risiko
sinnloser grammatikalischer Provokation.