Marie Luise Kaschnitz
Ahasver
In London sah ich den, der sterben wollte
Warum – er hatte genug.
Er war fünfzig Jahre alt oder fünfzigtausend.
Wenn er an einen Ort kam, den er nicht kannte
Dachte er, hier war ich schon einmal.
Wenn er eine Stimme hörte, die ihm fremd war
Horchte er auf – wer ist´s von meinen Freunden?
Unzählige Jahre lang hatte er jeden Abend
Am Fenster gestanden und die Zeitung aus Licht gelesen
Ihre Letter sprangen hervor hinterm Felsen der Nacht.
Sein Hemd war von Seide, doch unter dem seidernen Hemde
War sein Rücken von Narben und Striemen gezeichnet
Eine Karte der Leiden. Seine Knie waren geschwollen
Weil er im Schnee knien mußte, irgednwo hinter den Bergen.
Fluchtwege waren in seine Stirn gegraben.
Ein Fuß war lahm – vom Sturz auf welchen Pfad?
Als ich ihn sah, fuhr er im Hotel Ritz
Sieben Stockwerke hoch in der Spiegelkammer
Die Hand auf seinem gelben Lederkoffer
Den Blick gerichtet in die alten Augen
Die milchigen, voll kleiner roter Flüsse
Des anderen Herrn Ahasver.
Als ich ihn sah, stand er in seinem Zimmer
Packte den Koffer aus, bestellte Tee
Und spielte Harfe auf den Messingstäben
Den goldenen an seinem Totenbett.
Als ich ihn sah, schrieb er sein Testament
Ein Gebirge von Zahlen, aber darüber ein Auge
Brauenlos starr und rein wie das Auge der Bibel.
Im Bauch seiner Teekanne sah er sich selbst, verzerrt
Mit gewaltig lachendem Munde. Er nahm den Hörer auf
Die schwarze Muschel rauschte wie das Meer.
er hatte Lust von jemandem Abschied zu nehmen.
Good bye everybody from Ahasver.
Aber natürlich sagte er keinen Ton.
Er warf seinen Tod in den Tee und trank seinen Tod.
Der Tee schmeckte bitter wie ausgekochter Lorbeer.
Aber der Tod schmeckt nach nichts. Er bahrte sich auf
Seine Steppdecke war grün wie eine Apfelwiese
Mit kleinen Blumen bestreut. Sehr aufrecht saß er
Und sank dann um und starb den königlichen
Den Tod im Bett. Nur daß er leider
Vergessen hatte, die Tür abzuschließen
Und das der Kellner kommt und man ihn fortführt
Und ihm den Magen auspumpt, Tod und Lorbeer.
Er schlägt die Augen auf und um ihn her
Stehen seine schönen vorwurfsvollen Töchter.
Ich schlafe so schlecht, sagt Herr Ahasver.